Mittsommersehnsucht
Richtung des roten Holzhauses.
»Da war doch nichts.« Carina hakte sich bei ihr ein. »Ich war eine der Ersten hier am Kai, ich hab weder die Kleine noch ihren Onkel von Bord gehen sehen.«
»Tja dann …« Andrea folgte ihr leicht irritiert zum ersten Bus, in dem es angenehm warm war. Carina überließ ihr den Platz am Fenster, und Andrea sah angestrengt hinaus, während sich der Bus langsam in Bewegung setzte.
Die Nebelfetzen waren, wie von Geisterhand fortgewischt, nicht mehr auszumachen, eine helle Sonne schien warm. Zwei junge Schlittenhunde, kleine Wollknäuel noch, tollten über einen Felsen, auf dem fleckenweise hellgrünes Gras wucherte, vermischt mit wilder Kamille und kleinen blauen Glockenblumen. Das Muttertier lag ein paar Meter abseits vor einem Grashügel. Die Hündin war angekettet, ließ ihren Nachwuchs nicht aus den Augen und rief die übermütigen Kleinen hin und wieder mit leisem Bellen zu sich zurück.
»Was wären die Menschen in der Gegend hier ohne ihre Huskys«, sagte Carina. »Im Winter sind Fahrten mit dem Hundeschlitten nicht nur ein Vergnügen, je nachdem, wohin man will, ist es tatsächlich auch die beste Beförderungsart.«
Andrea erwiderte nichts, sie sah angestrengt nach draußen, wo auf dem Wasser eine kleine rote Wolke schwebte.
14
D as Nordkap, dieser riesige, eindrucksvolle Felsen, der nicht zu Unrecht als »das Ende der Welt« bezeichnet wurde, die Begegnung mit einer Samenfamilie, die Fahrt durch eine Landschaft, die lange nicht so karg war, wie Andrea gedacht hatte – all das waren Eindrücke, die sie ein wenig müde gemacht hatten. Als Carina vorschlug, vor dem Abendessen einen Aperitif zu trinken, lehnte sie ab. »Sei nicht böse, aber ich bin ziemlich kaputt.«
»Na gut. Dann schau ich mal nach Knut und überzeuge mich davon, dass er vor Sehnsucht nach mir fast vergangen ist«, sagte Carina lachend.
So muss das Gefühl sein, das echte Liebe vermittelt, dachte Andrea, als sie ihre Kabine aufschloss. Beschwingt, heiter, vertrauensvoll. Carina durfte sich sicher sein, dass Knut sie über alles liebte. Die innige Verbundenheit der beiden war unübersehbar, auch wenn sie sich nach außen betont lässig gaben. Aber immer wieder sagten Blicke, die sie tauschten, wie sehr sie miteinander verbunden waren. Ganz ähnlich war es auch bei Evelyn und Erik, die sich meist ohne Worte verstanden.
Andrea hängte die dicke Jacke über einen Bügel, dann setzte sie sich auf den kleinen Sessel, der unter dem Fenster stand, und zog sich die festen Schuhe aus. Ah, es tat gut, die Zehen frei bewegen zu können!
Andrea lehnte sich zurück. Eine Weile saß sie so da, die Augen geschlossen, und entspannte sich. Als sie Durst bekam, stand sie auf, um sich aus der kleinen Bar einen Saft zu holen. Dabei fiel ihr Blick auf die in Tromsø gekaufte rote Bluse, sie hatte sie gestern Abend angehabt – und manch bewundernden Blick geerntet. Sie hing immer noch am Schrank.
Als Andrea danach greifen wollte, sah sie zufällig auf ihr Bett. Sekundenlang hielt sie den Atem an.
Auf ihrem Kopfkissen lag ein kleiner Troll. Um sein linkes, etwas krummes Holzbein war ein Verband gewickelt.
In Kirkenes sind Sie am Wendepunkt Ihrer Reise mit dem Postschiff angekommen. Die Stadt befindet sich auf dem gleichen Längengrad wie St. Petersburg, Kairo und Istanbul , las Andrea in dem Reiseführer, den sie sich besorgt hatte. Bedächtig klappte sie das schmale Heft zu und verließ ihren Platz an einem der großen Panoramafenster. Während sie außen an der Reling entlang zu ihrer Kabine ging, sah sie sich wieder einmal nach Kim und Ole um.
Wo waren die beiden? Niemand hatte das kranke kleine Mädchen und seinen Onkel gesehen. Wann und wo sie von Bord gegangen waren, war auch ungewiss.
Es war kurz vor der Abendessenszeit, normalerweise waren die beiden bei den ersten Passagieren, die zu Tisch gingen, damit Kim zeitig ins Bett kam.
»Dieser Ole hat bis Kirkenes bezahlt«, wusste Knut, der Erste Offizier, zu berichten, als sie ihn nach den beiden fragte. »Aber ob die zwei die ganze Passage mitgefahren sind, weiß man nicht.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie in Honnigsvåg ausgestiegen sind. In der Gegend leben viele Samen, möglich, dass Kim dort daheim ist. Machst du dir Sorgen wegen der Kleinen?« Carina legte Andrea kurz die Hand auf den Arm. »Du hast mir doch selbst gesagt, dass niemand ihr mehr helfen kann – es ist richtig, dass sie ihre letzten Tage zu Hause verbringt.«
»Da hast du recht.
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