Mittsommersehnsucht
in einer perfekt ausgestatteten Klinik in Bergen arbeiten wollen, sagte sie sich. Jetzt aber bist du als Landärztin auf den Lofoten tätig, musst hinausfahren zu kleinen Schäreninseln und dich dort mit sturen Fischern oder Viehzüchtern auseinandersetzen. Darauf warst du nicht eingestellt.
Und doch … sie gestand sich ein, dass ihr die Arbeit Freude machte. So intensiven Kontakt zu den Patienten hatte sie lange nicht mehr gehabt. Immer mehr Patienten kamen in die Sprechstunde, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass es eine Vertretung für Johan Ecklund gab. Daran war in erster Linie Birgit Nerhus schuld. Die Haushälterin schwärmte bei jedem Gang in den Ort von der deutschen Ärztin.
»Du bleibst doch, nicht wahr?«, fragte sie immer wieder. »Wir brauchen dich hier, Doktor Andrea.«
»Aber ich hatte ganz andere Pläne. Und … Birgit, sei mir bitte nicht böse, aber ich weiß nicht, ob ich auf Dauer hier leben kann.«
»Du wirst dich an das Land gewöhnen, glaub mir. Und schon bald wirst du nicht mehr fortwollen von hier.«
»Aber es gibt so viele Probleme …« Andrea saß am blankgescheuerten Küchentisch und versuchte Zeitung zu lesen. Ihr fiel es immer noch schwer, sich auf Norwegisch zu verständigen, und der Dialekt vieler Einheimischer, vor allem der Samen, war für sie ein Buch mit sieben Siegeln.
»Das lerne ich nie«, klagte sie.
»Musst du auch nicht lernen.« Birgit legte ihr einen frisch gebackenen Krapfen auf den Teller. »Die Samen verstehe ich auch nicht, mach dir also deshalb keinen Kopf. Du kommst zurecht, das genügt doch.« Skeptisch sah sie Andrea an. »Oder willst du wieder weg?«
Andrea zuckte mit den Schultern. »Offen gestanden weiß ich nicht, was ich will, Birgit.« Ihr Blick ging zum Praxistrakt, wo Magnus immer noch lag. Seine Beinwunde verheilte jetzt perfekt, und er konnte schon etliche Stunden am Tag aufstehen. Sie gestand es sich nicht ein, doch der Meeresbiologe versetzte sie in Unruhe. Er provozierte mit Worten, mit Blicken … Wobei seine Blicke immer intensiver wurden und ihr ein ganz unvernünftiges Herzklopfen verursachten. Doch das wollte sie nicht wahrhaben.
»Hier, iss noch ein Stück Rosinenbrot. Und trink einen Tee, das tut gut.« Birgit schob ihr ein duftendes Stück des frischen Gebäcks hin, und Andrea hatte gerade den ersten Bissen gegessen, als das Telefon läutete. Es war ein Notruf aus einer der umliegenden Fischfabriken.
»Die Hallen liegen draußen im Fjord«, erklärte Birgit. »Da kommst du nur mit dem Boot hin.«
»Und jetzt?«
»Johan hat sein Boot immer selbst gesteuert, ich werde einen meiner Neffen fragen, ob er dich bringen kann.«
»Das wäre praktisch. Ich kenne mich ja in den Gewässern hier nicht aus – ganz davon abgesehen, dass ich auch kein Boot steuern kann.«
»Holger hat Zeit«, versicherte Birgit.
Und so brachte Holger die Ärztin wenig später zu einer jungen vietnamesischen Arbeiterin, die sich mit einem Messer so schwer verletzt hatte, dass die Wunde genäht werden musste. Und am nächsten Tag fuhr er Andrea zu einem sterbenden alten Mann auf einem winzigen Eiland im Norden, zu einem Fünfjährigen, der an einer Gräte zu ersticken drohte, und er brachte sie mit seinem Wagen bis zur Insel Gimsöy, einem Eiland, das schon zu Wikingerzeiten besiedelt gewesen war.
Andrea wunderte sich über den fast neuen Allradwagen, den der Zweiundzwanzigjährige besaß. Holger ging, das hatte Birgit erzählt, keiner geregelten Arbeit nach, doch er schien keine Geldsorgen zu haben.
»Was machst du eigentlich?«, fragte sie, als sie unterwegs waren und die Hochbrücke über den Gimsöystraumen passierten. »Dein Bruder Björn studiert, er will Ingenieur werden, oder?«
»Ja, ja, der Streber kriegt vom Lernen nicht genug.« Holger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts für mich. Ich mache meine eigenen Geschäfte, das bringt mehr ein.«
Wie diese Geschäfte aussahen, sagte er nicht, und Andrea hakte auch nicht nach. Sie konzentrierte sich auf die Patientin, eine etwa Vierzigjährige, die ihr erstes Kind erwartete und von einer Leiter gestürzt war, als sie das Stalldach reparieren wollte.
»Das ist nun wahrhaftig keine Arbeit für dich«, erklärte Andrea, nachdem sie die Patientin untersucht hatte. »Ein Glück, dass den Kindern nichts passiert ist.«
»Den Kindern?« Fassungslos sah Ellen Hornböy sie an. »Du meinst … du meinst, es werden Zwillinge?«
»Da bin ich ganz sicher. Ich habe zwei Herzschläge gehört.«
»Ja
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