Mittsommersehnsucht
trug, hineinhelfen.
Man reichte ihr die Ohrschützer gegen den höllischen Lärm, der die kleine Kabine erfüllte, dann wurde sie übers Bordmikrofon mit den wichtigsten Informationen versorgt.
»Dass Dr. Ecklund in der Klinik liegt, weißt du sicher schon. Und ein Assistenzarzt aus der Klinik in Gravdal hat sich bei einem Sturz das rechte Bein gebrochen, er fällt also auch aus. Es heißt, man müsste den Oberschenkel nageln.« Der Pilot sah sie kurz an, ehe er sich an den Instrumenten zu schaffen machte. »Dein Patient ist allein mit Birgit – und auf Røst liegt eine alte Frau mit Krebs im Endstadium. Sie muss dringend neues Morphium bekommen.«
»Røst? Nie gehört.«
»Eine der kleinen Inselgruppen weit draußen im Meer. Da pfeift der Wind immerzu. Und so wird dort der beste Stockfisch weit und breit produziert.«
»Die alte Frau … wer kümmert sich um sie? Und warum hat man sie nicht in die Klinik geflogen?«
»Lina will das nicht. Und Dr. Ecklund war ja auch jede Woche einmal bei ihr … Die beiden kennen sich schon seit ihrer Jugend, und wie ich hörte, wollte Lina auf keinen Fall einen anderen Arzt. So ist Johan Ecklund immer hinausgefahren zu ihr, wenn sie krank war.« Der Pilot zog so rasch als möglich seinen gelben Rettungshubschrauber in die Luft. »Ich bringe dich gleich nach Kirkenes, von dort fliegst du mit einer Inlandsmaschine bis Svolvær. Da steht dann ein Wagen bereit, der dich zu Dr. Ecklunds Haus bringen wird. Birgit hat versprochen, die Bereitschaftstasche mit allem Notwendigen zu bestücken.«
»Ihr habt mich ja schon vollkommen verplant. Na dann …« Andrea machte keinen Versuch mehr, mit dem Mann zu diskutieren und ihm zu erklären, dass die alte Frau dringend in klinische Behandlung gehörte. Dieser Menschenschlag hier oben im hohen Norden war sehr speziell – für sie, die Deutsche, die zudem stets in einer hochmodernen Klinik gearbeitet hatte, war dies alles neu und zum größten Teil auch unverständlich.
Der Blick aus dem Fenster war faszinierend und beängstigend zugleich. Das Wasser schimmerte tiefschwarz, wie kleine Punkte ragten hin und wieder Felsblöcke daraus hervor, umspült von weißer Gischt, die am harten Gestein in Millionen glitzernder Tropfen zerbarst.
Der Hubschrauber glitt langsam tiefer, und zum Greifen nah wurden die bunten Häuser von Kirkenes. Und kurz darauf ging es erneut in die Luft, diesmal mit einem Flugzeug, in dem höchstens dreißig Personen Platz hatten. Andrea bekam Kaffee und ein Sandwich, das mit frischen Krabben belegt war. Den Orangensaft, den sie bestellte, hatte sie noch nicht ganz ausgetrunken, da landeten sie auch schon – und gemeinsam mit dem jungen Mann in der abgewetzten Fliegerjacke lief sie übers Rollfeld zu einem dunkelblauen Wagen, der neben dem kleinen Flughafengebäude wartete.
»Ich bin Kristian«, stellte sich der Fahrer vor. »Gut, dass du da bist, Frau Doktor.« Sein Lächeln geriet ein bisschen schief. »Die alte Lina ist meine Großmutter. Sie ist … eigen. Aber ich liebe sie sehr.«
»Ich werde alles für sie tun, was ich kann. Aber sie müsste wirklich in eine Klinik.«
Kristian schüttelte den Kopf. »Sie war nur zweimal in ihrem Leben von zu Hause fort – einmal auf Hochzeitsreise nach Trondheim, dann vor fünfzehn Jahren, als meinem Vater die Doktorwürde verliehen wurde. Er ist ein ziemlich bekannter Ornithologe.« Er hielt kurz inne. »Sorry, ich rede immer viel zu viel, wenn ich nervös bin.«
»Schon gut.« Andrea nickte ihm beruhigend zu.
Die Fahrt bis nach Stamsund und zum Doktorhaus am Ortsende dauerte keine halbe Stunde. Vor dem kleinen weißen Gartentor, von dem die Farbe stärker abblätterte als vom Rest des Zauns, hielt Kristian an.
»Soll ich auf dich warten?«
Andrea zögerte. Ihr Herz begann heftig zu schlagen, als sie das Doktorhaus vor sich sah. Das hatte nun wahrhaftig nichts damit zu tun, dass sie Angst vor den Aufgaben hatte, die auf sie warteten. Doch der Gedanke, Magnus wiederzusehen, ließ sie nervös werden wie einen Teenie beim ersten Date.
»Ja bitte, warte hier. Es dauert bestimmt nicht lange.«
»Du bist Doktor Andrea, nicht wahr? Endlich kommt Hilfe!« Birgit, das runde Gesicht vor Aufregung gerötet, öffnete die Tür und streckte Andrea dann beide Hände entgegen. »Ich hatte solche Angst, dass du nicht kommen würdest. Danke. Wir brauchen deine Unterstützung wirklich dringend.« Damit schob Birgit sie durch einen schmalen, dämmrigen Flur in den kleinen Nebentrakt.
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