Mittsommersehnsucht
Monaten des Jahres gefangen worden, auf den großen Holzgestellen entlang der Küste hing der Stockfisch zum Trocknen. Wenn ein Fischer jetzt hinausfuhr, dann nur, um für den eigenen Bedarf ein paar Fische oder Krabben einzuholen.
»Es ist schön hier, nicht wahr?« Evelyn trat neben Andrea. »Bleib hier, so lange du magst. Und warte in Ruhe ab, was man dir auf deine Bewerbungen antwortet.« Sie ging zur Staffelei und zog das Tuch, mit dem sie das Bild abgedeckt hatte, fort. »Wie gefällt es dir?«
Andrea stieß einen kleinen Schrei aus. »Das ist … das ist Kim.«
»Ja. Ich musste sie malen. Fast jede Nacht träume ich von der Kleinen. So etwas ist mir noch nie passiert.« Evelyn hängte das Tuch wieder über die Staffelei. »Vielleicht gibt sie Ruhe, wenn ich das Bild fertig habe.«
»Du glaubst, dass Kim … oder ihr Geist …« Andrea sprach ihre Gedanken nicht aus. Sie dachte an den kleinen Troll, den sie in ihrer Kabine gefunden hatte, kaum dass Kim und der alte Ole auf so rätselhafte Weise verschwunden waren.
»Komm, wir nehmen noch einen Drink. Das vertreibt die verrückten Gedanken.«
»Lieber nicht. Magnus will mich gleich abholen. Wir wollen noch einmal essen gehen, bevor er morgen wieder nach Tromsø fährt.«
»Dann genießt den letzten Abend! Ich bekomme Besuch von meinem Galeristen. Er verkauft im Moment so erfolgreich, dass es mir fast unheimlich ist. Sogar die Landschaftsbilder, die ich nur sehr selten male und die mir selber gar nicht so besonders gefallen, verkaufen sich gut.«
»Ich gratuliere dir.«
Evelyn antwortete nicht. So sehr sie Tom Rheenhus als Galeristen schätzte, heute wäre sie froh gewesen, wenn er sich nicht angekündigt hätte.
21
D as Schiff hieß Finnmarken , es fuhr in südlicher Richtung und brachte die Passagiere vom Polarkreis zurück in wärmere Gegenden. Andrea hatte nur noch mit Mühe eine Kabine bekommen, es war beste Reisezeit und die Finnmarken fast ganz ausgebucht.
Wie schön war, im Nachhinein betrachtet, die Reise nach Norden gewesen. Sie hatte Carina und Knut, Evelyn und Erik kennengelernt – und Kim und ihren geheimnisvollen Großvater. Immer wieder nahm Andrea die kleine Trollfigur mit dem ungewöhnlich glatten Gesicht in die Hand und sah sie an. Es ging etwas Magisches von dem Figürchen aus, und sie hätte nicht zu sagen gewusst, was es war. Doch irgendetwas zwang sie immer wieder, den Troll anzuschauen.
Es klopfte, vor der Kabinentür stand ein junger Steward im weißen Jackett und hielt ihr lächelnd einen Strauß roter Rosen entgegen. »Für dich.«
»Danke.« Sie nahm die Blumen entgegen und steckte kurz die Nase in die duftende Pracht. Rote Rosen hier am Polarkreis … ein Wahnsinn! Dass die Blumen von Magnus waren, stand außer Frage. Und da war ja auch eine kleine Karte inmitten der Blüten. Andrea zog die Lasche auf und las: Für meine Lebensretterin und Traumfrau. Vergiss mich nicht bis zu unserem Wiedersehen. Magnus
Allzu viel wusste Andrea noch nicht von dem Norden des Landes, doch dass es nicht einfach gewesen sein konnte, die Rosen in der kurzen Zeit aufs Schiff zu schicken, war ihr klar. Während ihrer kurzen Aufenthalte in den verschiedenen Häfen entlang der Küste hatte sie nur selten einmal ein Blumengeschäft gesehen. Und wenn doch, dann waren die frischen Blumen ausgesprochen teuer gewesen.
Magnus … so ein Verschwender! Für einen Moment dachte sie an Jonas, der sie zu Beginn ihrer Bekanntschaft auch verwöhnt hatte. Mal war es ein Seidentuch gewesen, das er ihr beim Abschied am Flughafen geschenkt hatte, mal ein Schlüsselanhänger in Form eines Herzens. Einmal, sie erinnerte sich daran, dass es bei ihrem vorletzten Besuch in Bergen gewesen war, hatte er das Schlafzimmer mit Rosen dekoriert gehabt – und sie dann auf dem Bett, das voller Rosenblüten lag, leidenschaftlich geliebt.
Tränen traten ihr in die Augen, als sie daran zurückdachte. Wie glücklich sie doch gewesen war! Und wie naiv! Sie hatte Jonas geglaubt und vertraut. Sie war sicher gewesen, dass er eine gemeinsame Zukunft genauso wollte wie sie.
Und dann die Enttäuschung …
Gedankenverloren sah sie auf die Rosen, dann auf den kleinen Troll. Wie lange war es her, dass sie Bergen überstürzt verlassen hatte? Vier Wochen erst? Unglaublich! Innerhalb von vier Wochen hatte sich ihr ganzes Leben verändert. Die Zukunft, die bei ihrer Ankunft in Norwegen noch ganz klar und sicher vor ihr gelegen hatte, war jetzt immer noch ungewiss. Aber sie wusste nun,
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