Mittsommersehnsucht
dass ihre Liebe zu Jonas nicht echt, nicht dauerhaft gewesen war. Er hatte sie betrogen, und ihr eigenes Herz … es hatte sich gründlich geirrt.
Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche und versuchte Magnus anzurufen, doch sie bekam keine Verbindung. Er war gestern am frühen Abend von James abgeholt worden. Sie wollten noch ein paar der großen Königskrabben fangen, die sich seit über fünfzig Jahren in den norwegischen Gewässern viel zu stark vermehrten, so dass Meeresbiologen Alarm schlugen. Anschließend würde das Forschungsschiff in Richtung Tromsø zurückfahren.
Draußen ertönten zwei Schiffssirenen. Andrea wusste inzwischen, dass der Finnmarken jetzt ein anderes Schiff der Hurtigrute entgegenkam und die Kapitäne sich so begrüßten.
Am gestrigen Abend war Andrea von Evelyn an den Hafen von Svolvær gebracht worden.
»Du hättest wirklich noch länger bleiben können«, hatte die Malerin gesagt und aus ihrer großen Leinentasche ein kleines Päckchen geholt. »Damit du die Lofoten nicht so bald wieder vergisst.«
Es war ein wunderschönes Bild vom Troll-Fjord im Winter. »Es soll dich neugierig machen«, fügte Evelyn hinzu, als Andrea sich bedankte. »Komm bald zurück.«
Andrea erwiderte nichts, doch als sie Evelyn nachwinkte, standen Tränen in ihren Augen. Selten hatte sie so viel spontane Sympathie für einen anderen Menschen empfunden wie für diese ungewöhnliche Frau. Evelyn war sicher eine große Künstlerin, aber vor allem war sie ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch mit einem großen Herzen.
Als sie an der Reling stand und hinüber zu dem Hafen von Sandnessjøen schaute, den sie gleich anlaufen würden, dachte Andrea an den Galeristen, den sie kurz bei Evelyn gesehen hatte. Gut aussehend war Tom Rheenhus, charmant und wortgewandt. Und doch … er war Andrea auf Anhieb unsympathisch gewesen, ohne dass sie einen Grund für ihre Abneigung hätte nennen können.
Hatte Tom nicht von diesem Ort erzählt? Er hatte von der großen Helgelandbrücke geschwärmt, die ein Vermögen gekostet hatte. Sie führte über einen Fjord und verband viele kleine Inseln miteinander.
Es war kurz nach Mittag, als das Schiff in den Hafen einlief. Andrea beschloss, so wie die meisten Touristen von Bord zu gehen und sich den alten Ort anzusehen. Weiter draußen im Meer wurde intensiv nach Öl gebohrt, hatte sie gelesen. Doch die Ölplattformen interessierten sie nicht, sie war fasziniert von der kleinen Stadt, in der reges Leben herrschte. Als sie an einer Boutique mit wunderschönen Leinenblusen vorüberkam, kaufte sie sich spontan eine in Lichtblau. Die Verkäuferin holte aus dem Hinterzimmer eine perfekt dazu passende, leicht gefütterte Jacke, die am Kragen und an den Ärmeln hellgrauen Pelzbesatz hatte, was sehr schmeichelte, wie die Verkäuferin versicherte.
»Die Jacke ist wie für dich gemacht«, fügte die junge Frau hinzu, die fast weißblondes Haar hatte, das ihr bis zur Taille reichte. Die großen Augen waren von einem intensiven Blau, das an das Blau der kleinen Veilchen erinnerte, die im Frühjahr im Garten von Andreas Großeltern geblüht hatten. Seltsam, an diesen immer ein wenig verwildert wirkenden Garten hatte sie lange nicht gedacht. Dabei war er das Paradies ihrer Kindheit gewesen. Er reichte fast bis zum Rhein hinunter. Nur eine steile Mauer grenzte die Uferstraße vom Grundstück ab. Der Großvater, der auch Arzt gewesen war, hatte seiner einzigen Enkelin eine Schaukel aufgestellt, die Großmutter eines Tages stolz ein Puppenhaus aus der Stadt mitgebracht. Doch Andrea hatte lieber mit den alten Instrumenten, die der Großvater in einer Vitrine ausgestellt hatte, gespielt. Ihre beiden Lieblingspuppen wurden zu Patienten, die immer neu verbunden oder »operiert« werden mussten.
Nie hatte ein Zweifel daran bestanden, dass sie in die Fußstapfen des Großvaters treten würde. Ihre Eltern waren Büromenschen, der Vater arbeitete in einer Versicherung, die Mutter war Bankkauffrau und hatte auch eine Weile in ihrem Beruf gearbeitet, bis Andrea geboren wurde. Sie hatte eine behütete, schöne Kindheit gehabt. Umso schwerer wog der Verlust der Eltern, die vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.
»Nun, wie gefällst du dir?« Die Verkäuferin trat neben sie und richtete den Kragen der Jacke.
Andrea drehte sich ein paar Mal vor dem großen Spiegel, bevor sie zustimmend nickte. »Ich nehme sie.«
Schon am nächsten Tag bekam sie Gelegenheit, die neu erworbenen Stücke
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