Mittsommersehnsucht
»Es hat eben seine Vorteile, wenn man Leute mit Geld kennt. Warte an der Bar des Radisson-Hotels auf mich. Das kann man gar nicht verfehlen. Einverstanden?«
»Nur zu gern! Ich freue mich jetzt schon.«
»Ich mich auch.«
Der Tag hatte noch zusätzlichen Glanz bekommen, und als das Schiff in Kristiansund anlegte, hatte sich Andreas Stimmung gebessert. Nun sah sie der Rückkehr nach Bergen viel gelassener entgegen. Obwohl … der Gedanke, Jonas noch einmal begegnen zu müssen, war nicht gerade angenehm. Rasch verdrängte sie diese Vorstellung und konzentrierte sich auf die letzte größere Reiseetappe.
Kristiansund erstreckte sich über drei Inseln, hatte sie gelesen, und besaß schon in der Steinzeit einen Hafen. Viele der Reisenden stiegen aus, um einen kleinen Rundgang zu unternehmen, doch Andrea blieb an Bord. Sie genoss die Ruhe, das herrliche Licht des späten Nachmittags.
Hin und wieder hörte sie Hubschrauber am Himmel, drei, vier der wendigen Maschinen flogen gen Westen, wo weit draußen im Meer die riesigen Ölfelder Norwegens lagen, die einen großen Teil zum Reichtum des Landes beitrugen.
Zwei Besatzungsmitglieder gingen an ihr vorbei und grüßten. Aus dem Innern des Schiffes erklang Hundegebell. Es war nicht verboten, Tiere mitzunehmen, und viele der Einheimischen, die die Postschiffe auch heutzutage noch lieber nutzten als Busse, hatten ihre Hunde dabei.
Als Andrea sich umsah, bemerkte sie einen alten Mann, der zwei Schlittenhunde an der Leine hielt. Es waren wunderbare, sehr gepflegt wirkende Tiere. Der Rüde, ein großes Tier mit grauem Rücken und einem fast herzförmigen weißen Brustfleck, zog in Andreas Richtung.
»Du musst keine Angst haben«, rief der alte Mann von weitem. Er war Same, trug allerdings nicht die traditionelle Tracht, sondern eine Kordhose und eine olivfarbene Wetterjacke. Die leicht schräg stehenden Augen, die unzähligen Falten um den Mund und das beinahe zahnlose Lächeln erinnerten Andrea an Ole.
»Hab ich nicht. Kommt ruhig her.« Andrea streckte die Hand aus und ließ die Tiere schnuppern. Feucht, aber nicht unangenehm waren die dunklen Nasen. Doch am faszinierendsten waren die Augen der Tiere. Der graue Rüde besaß ungewöhnlich dunkle, fast veilchenblaue Augen, seine Gefährtin hatte links ein hellblaues, rechts ein dunkelbraunes Auge, was lustig aussah. »Ihr seid ja ganz Feine«, lobte Andrea die Tiere, die sich willig streicheln ließen.
»Nano ist der beste Zuchtrüde weit und breit«, berichtete der alte Same voller Stolz. Besorgt sah er zum Himmel. »Es wird Regen geben.«
Andrea runzelte die Stirn. So sah es nun wahrhaftig nicht aus. Aber sie widersprach dem Alten nicht. Er sprach nur gebrochenes Englisch, vielleicht hatte sie ihn sogar falsch verstanden.
Die Hunde legten sich auf den Befehl ihres Herrn hin, doch die Ruten peitschten aufgeregt den Boden.
»Sie spüren das Unwetter.« Der Alte ließ sich auf einer schmalen Bank nieder, in der Rettungswesten deponiert waren, wie auf einem Schild stand. »Magst du unser Land?«
»Ja, sehr. Es ist wunderschön.«
»Dann bleib. Du wirst hier gebraucht.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Wahrhaftig nicht! Ich habe nicht mal einen Job.«
»Aber bald. Glaub mir.« Der Alte erhob sich wieder. »Geh hinein, es wird stürmisch werden.« Er machte eine knappe Handbewegung, und sogleich erhoben sich die Hunde. Irritiert sah Andrea dem Trio nach. Dieser alte Mann … Er war genauso geheimnisvoll wie Ole. Aber seine Prophezeiungen waren albern. Er wusste ja nicht einmal, welchen Beruf sie ausübte. Wahrscheinlich sagte er seine Floskeln jedem Fremden.
Das Licht der Sonne wechselte plötzlich von sattem Goldrot in Orangerot. Von Westen zogen Wolken auf, die sich in rasender Schnelle zu dunklen, bedrohlich wirkenden Bergen vermehrten. Der eben noch wundervoll schimmernde Goldhimmel wurde grau, fast schwarz.
Und dann brach das Unwetter los.
24
W ie im übermütigen Spiel zerrte der Wind an den weißgelb gestreiften Markisen, die über die weitläufige Terrasse des Hotels Peer Gynt gespannt waren. Die Tischtücher blähten sich, ein paar der schmalen Vasen, in denen je eine einzelne Rose stand, fielen um. Das Blumenwasser ergoss sich über die zartgelben Tischdecken, hinterließ dunkle Flecken.
Die wenigen Gäste, die draußen gesessen und den Blick hinüber zum Grieg-Haus genossen hatten, beeilten sich, ins Innere des Restaurants zu kommen.
Es war ein häufiges Phänomen in der Region um Bergen: Das Wetter
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