Mittsommersehnsucht
Arme – bis er ihre Arme mit aller Macht festhielt.
»Du Mistkerl! Betrüger! Westentaschen-Erotiker!«
Wider Willen musste Magnus bei der letzten Beleidigung grinsen. Diese Wortschöpfung hatte was!
»Grins nicht so dämlich!«, fauchte Lilian, dann brach sie in jämmerliches Weinen aus. Heftiges Schluchzen ließ die zarten Schultern erzittern, sie weinte wie ein Kind. Und Magnus nahm sie, so, wie er auch ein ängstliches Kind in die Arme genommen hätte, und wiegte sie.
»Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte«, sagte er dabei, »aber mit Andrea will ich leben. Das habe ich vom ersten Moment an gewusst.«
»Andrea?« Sie hob leicht den Kopf.
»Sie ist Deutsche. Eine Ärztin, die mein Bein versorgt hat, als ich mich verletzt habe.«
»Ach so!« Schlagartig versiegte der Tränenstrom. Es war ein fast ironisches Lächeln, das Lilians Lippen umspielte, als sie sagte: »Das ist nur eine romantische Schwärmerei. Man hört immer wieder, dass sich Patienten in ihre Ärzte verlieben.« Sie fuhr sich übers Gesicht. »Das geht vorbei, glaub mir.«
Magnus schüttelte den Kopf und ging ins Bad. Er musste eine Weile allein sein. Mit seinen sich überschlagenden Gedanken. Mit seinem schlechten Gewissen.
Als er zurückkam, war Lilian verschwunden.
23
W ie mit flüssigem Gold überzogen wirkte die Küstenlandschaft, an der das Schiff vorüberfuhr. Tiefe, nachtblaue Fjorde, die Berge im Hintergrund, die unzähligen Buchten, vor denen auf kleinen Felsklippen Leuchtfeuer standen … alles war in dieses Farbenmeer aus Feuerrot, hellem Pink und strahlendem Gelb getaucht. Die bunten Rorbuer, die zu der vorüberziehenden Landschaft gehörten wie die grauen Felsen, das sanfte Grün der Pinien und niedrigen Büsche, boten einen reizvollen Kontrast. Kleine Boote zischten an der Finnmarken vorbei. Das Wochenende hatte begonnen, und viele Städter zog es hinaus aufs Wasser.
Wehmut erfasste Andrea. Sie hatte das Gefühl, in einem luftleeren Raum zu schweben. Wie sah ihre Zukunft aus?
Der Verstand riet: Kehr heim nach Deutschland. Such dir eine Stellung an einer renommierten Klinik und führ dort deine Karriere fort.
Das Herz aber wollte etwas anderes. Schon jetzt hatte sie Sehnsucht nach Magnus. Nach seiner Nähe, seiner Umarmung. Es war ein neues, zuvor nicht gekanntes Gefühl. Es verwirrte sie fast so sehr, wie es sie glücklich machte.
Eine laute Schiffssirene ertönte – ein anderes Postschiff kam ihnen entgegen. Als Andrea ihren windgeschützten Platz an Deck verließ und sich über die Reling beugte, sah sie, dass es die Midnatsol war. Die Wehmut, die sie erfasst hatte, verstärkte sich noch.
Kaum war das Schiff ihren Blicken entschwunden, ging sie zu ihrem Deckstuhl zurück und griff zum Mobiltelefon. Ja, sie hatte ein Netz! Carinas Nummer war ebenso eingespeichert wie die von Magnus, Evelyn und Birgit Nerhus.
»Erstes Kommissariat, Carina Rasmussen am Apparat.«
»Hallo, Carina. Ich bin’s – Andrea.«
»Andrea! Wo steckst du?«
»Auf dem Schiff. Ich bin auf dem Weg zurück nach Bergen.«
»Reist du wirklich heim?«
»Ich … ich weiß es noch nicht.« Einen Moment lang blieb es still in der Leitung. »Carina, störe ich dich?«
»Ach was. Ich sitze am Schreibtisch und schreibe ein Protokoll. Schwere Körperverletzung mit Todesfolge. Nichts, was ich nicht gern unterbrechen würde.«
»Ich habe mich verliebt. Auf den Lofoten.«
»Das ist ja wunderbar!« Carina lachte. »Dann bleibst du vielleicht doch bei uns.«
»Wenn das so einfach wäre …«
»Es ist alles einfach, wenn man nur will. Denk an mich. Ich habe den Job auf den Lofoten tatsächlich gekriegt, muss aber schon in vier Wochen dort antreten. Das wird ganz schön stressig, aber ich will’s ja so.«
»Knut wird sich freuen. Dann könnt ihr euch vielleicht öfter sehen.«
»Hoffentlich.« Carina schloss die vor ihr liegende Akte und speicherte den Text, den sie in den Computer getippt hatte. Andrea hörte das leise Klingelgeräusch, als die Datei geschlossen wurde. »Weißt du was? Ich komme morgen nach Bergen. Dann können wir in Ruhe reden, sobald du von Bord gegangen bist.«
»Du bist verrückt, das ist doch viel zu weit von Narvik bis hierher. Obwohl … es wäre toll, dich noch mal zu sehen.«
»Mit dem Flugzeug ist es kein Problem. Ich habe zum Glück einen Kollegen, der Hobbyflieger ist und mich für einen kleinen Obolus nach Bergen bringen wird. Seinen Service haben Knut und ich schon mehrmals in Anspruch genommen.« Sie lachte.
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