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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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ihn beten hören, sehr laut und   … verzweifelt. Ich habe ihn durch die Wand gehört. Manchmal klang es wie Latein – ich habe die Worte nicht verstanden. Das war nachts. Und später hat er angefangen, vor und nach seinen Besuchen in der Kathedrale, in die er um jede Tages- und Nachtzeit und bei jedem Wetter ging, so laut zu beten. Ich habe ihn um zwei oder drei Uhr morgens die Straße entlanggehen hören. Auf dem Weg in die Kathedrale oder auf dem Rückweg – manchmal ist er beinahe gerannt, fast als wäre er besessen. Das meine ich nicht im Sinn von   …»
    «Ich verstehe schon.»
    «Und dann hat er sich immer mehr zurückgezogen. Auch von Männern, aber vor allem von Frauen. Er wollte nicht mal seine eigene Schwester sehen. Er hat sie abgewimmelt –
ich
musste sie abwimmeln   –, wenn sie zu Besuch kommen wollte. Er hat sich sogar geweigert, mit ihr zu telefonieren. Oder seine Enkelinnen – er hat zwei Enkelinnen. Eine von ihnen kam mit ihrem Neugeborenen, um es ihm zu zeigen. Er hat sie die Straße entlangkommen sehen und mir aufgetragen, ihr zu sagen, er wäre nicht zu Hause. Ich habe das überhaupt nicht verstanden. Er war schließlich vierzig Jahre verheiratet.»
    «Und verstehen Sie es jetzt?»
    «Ich habe», sagte Edna, «inzwischen ein bisschen mehr über den heiligen Thomas von Hereford gelesen.»
    «Thomas Cantilupe?»
    «Der wollte auch nichts mit Frauen zu tun haben.»
    «Aber das war
damals
», sagte Merrily. «Das war im Mittelalter. Cantilupe war ein römisch-katholischer Bischof. Es war ihm nicht erlaubt   …»
    «Das weiß ich. Aber wohin ist Kanonikus Dobbs gegangen, als er in der Kathedrale war? Wo hatte er seinen Schlaganfall?»
    «Bei Cantilupes Grabmal.»
    «Mehr kann ich Ihnen nicht sagen», erklärte Edna. «Sie tun jetzt besser das, wofür Sie hergekommen sind.»
     
    Eigentlich verlangte das übliche Vorgehen in solch einem Fall, dass das gesamte Haus gesegnet wurde, Raum für Raum, beginnend mit dem Haupteingang, sodass sich der Segen auf alle erstreckte, die eintraten und hinausgingen. Aber das würde Susan Thorpe wohl kaum gestatten.
    Wenn man eine Erscheinung mit einem bestimmten Ereignis aus der Geschichte des Hauses verknüpfen konnte, sollte man zumindest fragen: Was hat die Erscheinung gerade
jetzt
hervorgerufen?Steht es mit der aktuellen Nutzung des Hauses in Verbindung oder mit den Menschen, die jetzt hier leben? Fühlten sich die älteren Damen ungeliebt, abgelehnt oder missachtet?
    Man konnte Tage mit solchen Nachforschungen verbringen und dann feststellen, dass es sich bloß um eine optische Täuschung gehandelt hatte. Merrily ging ein bisschen näher zu der Halterung der ausgebrannten Glühbirne.
    «Ich weiß nicht, was Ihr Schwiegersohn erwartet hat, aber   …»
    «Ach, das ist doch nur ein aufgeblasener Fatzke», sagte Edna, die von ihrem Korbstuhl aufgestanden war. «Ich hoffe, dass ich tot umfalle, bevor ich in ein Heim ziehen muss, das von Leuten wie den beiden geleitet wird. Das nennen die Pflege, dass ich nicht lache. Die armen Alten hier tun mir leid. Ich beiße die Zähne zusammen, bis ich eine eigene kleine Wohnung gefunden habe, aber dann bin ich in null Komma nichts hier weg.»
    «Schön für Sie», sagte Merrily.
    Es war ganz still. Schweigend standen sie ein paar Minuten nebeneinander, während Merrily Gott bat, diese Räume zu segnen und über alle zu wachen, die in ihnen lebten.

35
Sholto
    Hände gefaltet, Kopf gesenkt.
    Nicht mal das Klavier hörte man hier oben. In der Stille klangen ihre Worte hohl und banal   …
    «…   und ich bitte Dich, die Treppen und Flure zu segnen und auch die Bewohnerinnen dieses Hauses und diejenigen, die hier arbeiten   …»
    Sie stellte sich die alten Damen vor, die sich unten um das Klavier scharten, um sie mit in ihr Gebet zu ziehen.
    «Wir bitten Dich im Namen Unseres Herrn Jesus Christus, dass kein Geist oder Schatten oder Abbild aus der Vergangenheit die Menschen stört, die hier leben. Wir bitten Dich, dass diese Abbilder oder Geister an ihren angestammten Platz zurückkehren und dort in Frieden ruhen.»
    Das bezog sowohl
Abdrücke
als auch
Ruhelose
mit ein, auch wenn Merrily nicht glaubte, dass es sich hier um einen
Ruhelosen
handelte. In diesem Fall hätte sie etwas bemerkt, zumindest eine Atmosphäre der Unrast.
    «Amen», sagte Edna.
    Merrily hielt den Atem an. Es war vorgekommen, hatte Huw Owen erzählt, dass der Geist selbst sich einen Augenblick lang gezeigt hatte, bevor er – theoretisch für

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