Mittwinternacht

nennen, schätze ich.»
    «Der heilige Hügel.»
    «Super», sagte Dick mit offenkundiger Zufriedenheit. «Wer auf einem heiligen Hügel geboren wurde, muss ja eine besondere Verantwortung gegenüber seinen Ahnen empfinden. Und der Selbstmord ihres Vaters   … eine klassische offene Wunde, die sie heilen lassen muss.»
    Lol fühlte sich unbehaglich. Dick schien davon auszugehen, dass das Problem schon gelöst war, wenn man erst mal ein nettes psychologisches Erklärungsmuster gefunden hatte, in das alles fein säuberlich hineinsortiert werden konnte. Problem erkannt,Problem gebannt. Das gefiel Lol nicht. Seiner Erfahrung nach ging es im wahren Leben viel chaotischer zu.
    Dick lehnte sich in seinem lederbezogenen Drehstuhl zurück und faltete die Hände bequem über seinem Kugelbauch. «Das Leben ist eben nicht so einfach und durchschaubar wie bei irgendeinem Computerspiel. Weißt du, ich glaube, über Moon könnte ich wirklich mal einen Artikel schreiben. Lass uns zu ihr gehen. Was machst du morgen früh?»
    «Also glaubst du, es war ein Traum?», fragte Lol.
    «Hmm?»
    «Ihr Vater – ein Traum? Oder eine Erfindung?»
    «Meine Güte!» Dick warf die Arme hoch. «Was zum Teufel soll es denn
sonst
gewesen sein?»

9
Klerikerschick
    Auf dem Nachhauseweg hatte Merrily kaum einen Blick für die Landschaft; die Fachwerkbauernhöfe und Cottages, die abgeernteten Obstpflanzungen. Vor alldem drohte, als wäre es in die Windschutzscheibe geätzt, das unbewegliche, wettergegerbte Gesicht von Kanonikus T.   H.   B.   Dobbs, als wäre es ein archaisches Monument.
    Die stille Konfrontation in der Kathedrale schien die Zeit ausradiert zu haben. Sie konnte sich an ihr Gebet in der wundervollen Kapelle des Bischofs Stanbury nicht mehr erinnern – nur noch daran, wie sie hineingestolpert und später wieder zögernd herausgetreten war. Alles dazwischen war in Nebel gehüllt.
    Aber sie hatte ihre Antwort bekommen.
    Oder etwa nicht?
     
    Der Wind hatte sich gelegt, und der Himmel lag schwer und eisig über dem späten Nachmittag. Das historische Dorf Ledwardine wirkte spröde und vergänglich, die Fachwerkgebäude verlassen, was bei einigen ja inzwischen auch tatsächlich der Fall war. An
Cassidy’s Country Kitchen
zum Beispiel erinnerte nichts außer dem Namensschild und ein paar Apfel-Aufklebern, die sich von den dunklen Scheiben lösten. Zwischen der Church Street und der Old Barn Lane waren fünf
Zu verkaufen
-Schilder aufgestellt worden.
    Das Dorf schien Fürsorge und Liebe und noch etwas anderes nötig zu haben – eine ordentliche Dosis Seele und Geist. Den Geist Gottes? Und wer sollte sie ihm verabreichen? Eine pflichtbewusste, engagierte Pfarrerin ohne selbstsüchtigen Ehrgeiz?
    Gib’s zu: Es hat dich persönlich gereizt. Du hattest eine verunsichernde Begegnung mit dem Übersinnlichen und wolltest mehr darüber wissen. Eigentlich, gestehe es dir ruhig ein, hat Huw Owen dich gemeint, als er die Teilnehmer des Kurses aufgefordert hat, sich über ihre Motive Gedanken zu machen; sich darüber klarzuwerden, ob sie einen Beweis für das Leben nach dem Tod brauchen, um ihren Glauben zu stärken, einen Beweis für die Existenz des übernatürlichen Bösen, um von einer Macht des Guten überzeugt zu sein.
    Huw hatte all das geahnt. Jane war dagegen gewesen. Nur Mick Hunter hatte sich enthusiastisch gezeigt, aber der verfolgte politische Zwecke.
    Und jetzt hatte Gott den Schiedsspruch gefällt, und – durch das Schweigen des Kanonikus Dobbs   – Gott hatte Seine unmissverständliche Ablehnung gezeigt.
    Natürlich hätte das auch reiner Zufall sein können – wenn man es rational betrachtete.
    Aber was war mit dem Drang, der sie in die Kathedrale gezogen hatte, die Kapelle, die auf sie zu warten schien, und dann Dobbs, der ausgerechnet dort auftauchte, als sie wieder herauskam? Siehatte ein Zeichen haben wollen, und sie hatte ihr Zeichen bekommen. Ende der Geschichte. Sie würde noch heute Abend den Bischof anrufen und ihm sagen, dass es nun doch nicht so kommen würde, wie er wollte.
     
    Hochgewachsene Bäume trennten das alte Pfarrhaus vom Dorfkern. Unter ihnen parkte ein grellgrüner Fiesta.
    Das musste etwas mit Jane zu tun haben. Wenn sie einen Freund hatte, hoffte Merrily nur, dass er unter zwanzig war.
    Das Pfarrhaus war sehr groß, und Jane hatte den gesamten obersten Stock für sich in Anspruch genommen, den ehemaligen Speicher. Mittlerweile hatte sie ihr Wohnarbeitszimmer im Stil des holländischen Malers Mondrian