Mobile Röntgenstationen - Roman
aber an der Schauspielschule abgelehnt worden und arbeitete nun in der Filiale einer Milchfabrik. Schön war sie, schöner noch als Danielė, und ebenfalls der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sigūtė war geradeheraus in ihrer Art, ein offenbar der Familie Starkus eigener Charakterzug. Warum ich nicht gleich gekommen sei? Danielė, die Ärmste, habe sich die Augen aus dem Kopf geguckt, ständig Ausschau nach mir gehalten. Hättest auch schreiben können! Einen Schweinehund nannte sie mich nicht, aber ich spürte, sie dachte so. Ich zog die Flasche aus der Tasche und trank. Lass mich auch mal, bat sie unerwartet, um dann einen ordentlichen Schluck aus der Pulle zu nehmen. Man hätte ihr eine Chance geben sollen als Schauspielerin. Ich erschien ihnen nicht schlank genug, bekannte Sigūtė, dieser Kommission. Allzu rundlich schon! – sie ahmte irgendeinen Professor nach, in ihren Augen blitzte der Schalk. Ich drohte ihr freundlich mit dem Finger: Sigūtė! Sie hatte sich zurückgelehnt und betrachtete mich aufmerksam. Seltsam, sagte sie dann, so hässlich bist du und gefällst den Mädchen trotzdem. Danė hat anfangs geweint, erst später hat sie sich beruhigt und damit abgefunden , hörst du? Ich hörte es und konnte nur seufzen: Ach, Sigūtė, du Sigūtė.
Ich schlief in Danielės Zimmer. Ja, hier hat sie sich immer wieder die Ohren zuhalten müssen, müde des Protestliedes ihrer Mutter: Wenn nur nicht diese verdammte Stadt wäre! Konntest du nicht hier bleiben? Und was für ein Kerl ist das, den sie nicht mal in die Armee nehmen? Aber nein, in die Stadt!
Arme Danielė. Ich blätterte in ihren wenigen Büchern. Hauffs Märchen, drei Bände Heine, Stefan Zweig, das war schon die ganze deutsche Lektüre. Ja, noch Fallada. Einiges aus Wege der Mutigen, einer litauischen Abenteuerreihe. Das Neue Testament, noch eine Vorkriegsausgabe. Aus ihr fiel ein nicht beendeter Brief heraus, an mich: … ich fühle, wie du dich entfernst. Und ich habe mich davon überzeugt, dass du mir auch allmählich entglitten wärst, wenn ich nicht krank wäre. Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich dieses Geschreibsel hier an dich abschicke. Ich habe übrigens von dir geträumt. Und weißt du, mit wem du es da getrieben hast? Du wirst es nicht erraten – mit Hrasilda! Da lachst du? Von wegen – ich fuhr zusammen, wie von einem Peitschenschlag getroffen! Verzeih mir diese Sentimentalitäten: Da blicke ich durchs Fenster und sehe, wie du dich, von der Bushaltestelle kommend, auf unserem Broadway auf dieses Haus zubewegst, das Hemd aufgeknöpft, ohne Schal und ohne Mütze, beschwipst, aber diesmal nicht sehr … du gehst und gehst, ohne dich jemals zu nähern. Wie in dieser Pantomime. Erinnerst du dich, wie wir uns einmal zusammen ein Stück von Tennyson angesehen haben? Und da tauchst du schon wieder auf, ein Abrozdas [48] (immer diese Fremdwörter, entschuldige!). Verzeih mir, dass ich dein ohnehin verwirrtes Leben noch mehr durcheinander bringe. Weißt du, Br ū klys hat mir mal von irgendeinem Manteufel erzählt … An dieser Stelle brach der Brief ab. Chaos im Inneren, Verwirrung. Ich nahm einen Schluck Starka und zwang mich einzuschlafen. Morgen gleich ab nach Kaunas. Und vor dem Einschlafen war da noch ein anderer Gedanke: Du trinkst zu viel. War es nicht an der Zeit sich zusammenzunehmen, bevor es zu spät war? Dieser Sumpf … verflucht. Nur schlafen!
Am nächsten Morgen beim Frühstück wieder dasselbe Lied: Wer hätte so etwas erwarten können! Nie ist hier einer krank geworden. Wäre nicht diese gottverfluchte Stadt! Wäre nicht dieses Amerika, es möge im Orkus versinken! – zitierte ich in Gedanken die Worte einer Klassikerin, und verabschiedete mich. Sigūtė beschloss, mich noch ein wenig zu begleiten. Ihre Eltern schwiegen dazu, aber ich spürte, man würde sie sich vorknöpfen, wenn sie zurückkam. Ich gefiel ihnen nicht, auch wenn sie es nicht sagten. Die Blicke der beiden waren beredt genug – ein armer Schlucker, ein unangenehmer Typ. Nicht mal Raimundas’ Garderobe hatte sie verbergen können, meine äußere Dürftigkeit und die innere. Die Leute hier waren erbarmungslose, aber präzise Psychologen, scharfsinnige Analytiker, sie wussten es selbst, auch wenn sie diese Eigenschaft anders nannten. Sie durchschauten einen durch und durch. Durchleuchteten ihr Gegenüber wie mit einem Röntgenapparat. An der Tür drückte mir die Mutter einen Beutel in die Hand, mit einem Podogrev , lächelnd dachte ich
Weitere Kostenlose Bücher