Mobile
sah Joachim Michael an. »Ja, genau«, sagte er. »Du kennst dieses Gefühl auch?«
»Glaubst du etwa, du hast diese Empfindung exklusiv? Du bist nicht der Erste und nicht de r Einzige, dem irgendwann mal der Boden unter den Füßen weggezogen wird.«
»Aber ich muss es verstehen, Michi. Ich muss begreifen, was mit meinem Sohn geschieht und warum es geschieht.«
»Das kannst du nicht erzwingen. Versuche zuerst einmal, den Hauch des Begreifens zu spüren, so wie du den Hauch des Sommerwindes im Nacken spürst und dir dadurch überhaupt er st klar wird, dass Wind weht.«
Joachim krauste die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Als Kind sitzt du in deinem kleinen, von dir und deinen Kumpels zusammengezimmerten Baumhaus und spielst irgendetwas. Zum Beispiel bist du gerade Ritter, der seine Burg gegen Angreifer verteidigt. Gleich darauf spielst du glückliche Großfamilie im Haus am Meer, anschließend bist du ein Indianer in seinem Wigwam. Und das alles, ohne dein Baumhaus auch nur für eine einzige Sekunde verlassen zu haben. Als Kind hast du keinerlei Schwierigkeiten damit, dich in andere Welten zu begeben. Du erweiterst die Grenzen deiner Fantasie ganz einfach, ohne darüber nachzudenken. Du tust es einfach, weil es gerade in dein Spiel passt oder in deine Stimmung. Wenn du dann älter wirst, tust du dich immer schwerer damit, dir Dinge vorzustellen, die abstrakt und ohne unmittelbaren Realitätsbezug sind. Du glaubst immer mehr an das, was du siehst und immer weniger an das, was du alles sehen könntest . Als Kind bezeichnen dich alle als fantasievoll und finden es ganz toll, dass du in deinem Kopf bunte und lebendige Bilder entstehen lässt. Bist du aber erwachsen, dann erklären sie dich aufgrund der Kopfbilder zum Spinner und stecken dich vielleicht sogar in die Gummizelle. Und das möglicherweise nur deshalb, weil dir etwas eigentlich völlig Irreales widerfährt, etwas, das wirklich geschieht, aber was die Fantasie und Vorstellung von neunundneunzig Prozent der Menschen sprengt, so dass es einfach als Blödsinn abgetan wird.« Michael trank einen tiefen Schluck, dann fuhr er fort: »Betrachte deine Situation als Chance. Es ist große Scheiße, was mit deinem Sohn geschieht, keine Frage. Aber im Gegenzug erfährst du etwas, das nur wenige erfahren: Nämlich, dass dort draußen tatsächlich Dinge geschehen, von denen man meint, sie könnten nicht geschehen.«
In Joachims Kopf drehte sich alles. »Weißt du, Michi, auf dem Weg hierher habe ich mich immer wieder gefragt, was ich mir eigentlich davon verspreche, dich aufzusuchen. Ich dachte mir: Okay, vielleicht hält Michael dich für einen Idioten und lacht dich aus, aber irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass du sagst, du hilfst mir.«
»Weiß deine Frau, dass du hier bist?«
»Ja, im Grunde war sie es, die wollte, dass ich dich finde.«
Michael lächelte spöttisch. »Na, das ist doch mal was.«
»Es war falsch von mir, hierher gekommen zu sein, es hat nur Zeit gekostet. Meiner Frau und mir wird schon einfallen, wie wir weiterkommen.«
»Da habe ich erhebliche Zweifel, zumindest, was dich angeht. Du verfügst nicht über die geistigen Voraussetzungen, um dieser Sache auf den Grund zu gehen. Ich spreche nicht von mangelndem Intellekt, Jo, den Intellekt hast du sicherl ich, sondern ich spreche von den fehlenden Fähigkeiten des Querdenkens.«
»Mein Kopf soll nicht dein Problem sein.« Joachim konnte seinen Missmut kaum noch verbergen.
»Du meinst also immer noch, du seist besser als andere, egal um was es geht. Dein altes Problem, Jo.«
»Willst du mich jetzt auch noch blöd anmachen?« Joachim stand auf. »Es ist für mich an der Zeit, zu gehen.«
»Was ist mit dem Fahrradgeschäft, Jo? Gibt es das noch?«
Joachim stutzte. »Welches Fahrradgeschäft?«
Michael schüttelte missmutig den Kopf. »Ist das zu fassen? Da bangt der Mann um das Leben seines Sohnes und kümmert sich nicht einmal um das Nötigste. Ich wiederhole die Frage: Befindet sich in dem einstigen Krempelladen noch immer das Fahrradgeschäft?«
»Ich weiß nicht, was da drin ist.« , sagte Joachim gereizt. »Ich weiß ja nicht mal mehr, wo genau der verdammte Laden ist.«
»Man sollte dir lange Stahlnägel in den Arsch pusten. Mit dem Mobile stimmt etwas nicht, also musst du als Erstes dorthin, wo du das Mobile her hast, das liegt doch wohl auf der Hand.«
»Entschuldigung, ich habe mich mit der Sache dreißig Jahre lang nicht mehr beschäftig t«, rechtfertigte sich Joachim.
»Du
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