Mobile
dem Mund. »Ich bin hier, alles ist gut. Daniel schläft weiterhin?«
»Ja. Ihr hattet gesagt, ihr und ich, wir machen eine gemeinsame Aktion. Was habt ... .« Carola stockte kurz, dann sagte sie verwundert: »Das Mobile ... bewegt sich nicht. Wieso nicht? Ich ... Gott, ich hatte mit Schwung die Schnur durchgeschnitten, das Mobile muss dabei in Bewegung geraten sein, aber ... es ist ohne jede Bewegung. Was ist hier los? Die Figuren tanzen nicht!«
»Ehrlich?«, fragte Michael staunend.
»Nichts, nicht die kleinste Bewegung«, rief Carola nervös. »Verstehe ich nicht ... - sonst tanzen die Figuren bereits beim geringsten Windzug.«
»Stoß es an«, sagte Michael.
»Was soll ich? Es anstoßen?«
»Mach', Caro«, sagte Joachim, nur um überhaupt was zu sagen. Es ärgerte ihn, dass er nicht Michaels schnelle Gedanken hatte.
Carola stieß eine Holzfigur an. Sie pendelte hin und her. Der Rest des Mobiles, die anderen Figuren und die Holzstäbe, bewegte sich nicht.
»Das gibt es nicht«, murmelte Carola.
»Was ist los?«, fragte Michael.
Carola beschrieb, was passierte. Oder besser: Nicht passierte . »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie dann.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Plötzlich vernahm Carola ein leises Wimmern. Daniel.
»Er ist wach«, sagte sie erschrocken. »Er hat die Augen auf und starrt das Mobile an. Sein Kopf ... mein Gott - sein Kopf geht hin und her, wackelt.«
Joachim und Michael sahen einander an.
»Und was jetzt?«, raunte Joachim so leise wie möglich.
Michael zuckte mit den Sch ultern und schüttelte den Kopf.
»Es wird immer heftiger«, rief Carola aufgeregt. »Seine Augen und der Mund ... zucken, wie unter ... Strom.«
Michael sagte: »Nur die Ruhe. Er vermisst die Figur, das Mobile ist unvollständig.«
Daniel begann zu brüllen.
Jetzt hielt Michael das Handy ans Ohr. »Carola«, rief er hinein, »hörst du mich? Lass den Jungen liegen, nimm ihn nicht hoch. Hörst du mich?«
Ihre Stimme überschlug sich: »Er ... mein Gott, sein Gesicht ... - es zerreißt gleich. Mein Kind! Joachim, unser Sohn ... - Hilfe!«
Michael brüllte: »Nimm' ihn nicht hoch, Carola, nimm ihn jetzt nicht hoch! Los, schnapp dir die Schere und nimm die verdammte Scheißfigur und bearbeite sie mit der Scherenspitze, ramm ihr die Schere nspitze immer wieder in ihr verfluchtes Holz!«
»Was?!«, kreischte sie. »Nein, das tue ich nicht - es wird ihn umbringen!«
Michael brüllte: »Tu' es! Verdammt, mach, was ich dir sage!«
»Er ... Daniel ... Gott, sein Kopf ... .«
Joachim riss Michael das Handy aus der Hand. Er hörte seinen Sohn wie von Sinnen schreien.
»Caro!«, brüllte er. »Mach! Hack' die Schere in die Figur, als sei sie der Teufel persönlich!«
Der sie auch ist, fügte er in Gedanken hinzu.
*
Graig lag tot im Büro des kleinen Hotels. Der Mittvierziger, der ihm das Leben entrissen hatte, schenkte ihm einen letzten abfälligen Blick.
Graigs Körper zeigte keine Verletzungen auf, und bei einer etwaigen klinischen Obduktion würden die Pathologen auf nichts stoßen, was auf eine unnatürliche Todesursache hindeutete. Ganz offensichtlich war dieser junge Mann unerwartet am Herzinfarkt gestorben. Es gab diese Möglichkeit, es wie einen Herzinfarkt aussehen zu lassen, aber es gab nur wenige, die diese Möglichkeit kannten und noch wenigere, die sie beherrschten. Der Mittvierziger war einer von ihnen.
Er wusste, dass er die Augen des Toten nicht kontrollieren musste. Der tote Idiot hatte sich ihre Augen noch nicht verdient gehabt. An Beispielen wie ihm zeigte sich immer wieder, dass es richtig war, die Rekruten über Jahre hinweg genau zu beobachten und streng zu prüfen. Am Ende kam in den meisten Fällen heraus, dass sie einfach nicht gut und nicht gefestigt genug waren. Der tote Idiot zu seinen Füßen hatte es selbst versaut. Er hätte einfach nur seinen dämlichen Mund halten müssen, sich zu nichts hinreißen lassen dürfen. Dass er versucht hatte, den begangenen Fehler mittels Warnung zu korrigieren, hatte für ihn nichts mehr geändert. Bedingungslose Verschwiegenheit war das alles Entscheidende.
Ein junger Mann, der plötzlich zusammengesackt und ohne jedes Vorzeichen den Fluss Styx überquert hatte. Das passierte immer wieder mal, jeden Tag tausend Mal und mehr überall auf der Welt. Der Mittvierziger sah sich noch einmal um. Es sah perfekt aus. Im Büro fehlte nichts, nichts war durchwühlt worden, keine Schreibtischtür stand offen - nichts deutete auf ein
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