Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
Himmels willen nicht«). Der Fußboden ist aus Kalkstein (»fass ihn nicht an«, bla, bla, bla). An den Wänden, wie im ganzen Haus, hängen Unmengen von Fotos und Gemälden. Die Küche sieht aus wie eine Kunstgalerie im West End mit Espressomaschine. Aber wenn man sich mal daran gewöhnt hat, ist es ganz gemütlich.
Harry legt (sehr vorsichtig) ein paar Fotos auf den Tisch, die er Mum zeigen will. Harry ist fünf Jahre älter als ich und studiertKunst am Central Saint Martins College, der BESTEN KUNSTSCHULE DER WELT. Ich würde mich auch dort bewerben, wenn ich was anderes als Strichmännchen zeichnen könnte und meine perspektivischen Versuche nicht wie schräge 3-D-Puzzles aussähen. Stattdessen lenke ich meinen Ehrgeiz dahin, eines Tages für die Olson-Zwillinge oder Vivienne Westwood Tee zu kochen und am Fotokopierer zu stehen, aber davon habe ich bis jetzt NIEMANDEM erzählt, weil es der Modehimmel auf Erden wäre, und ich will es nicht beschreien.
Bei Harry dreht sich zurzeit alles ums Fotografieren. Davor war es Siebdruck. Ich glaube, er weiß noch nicht, was für ein Künstler er werden will, aber auf jeden Fall wird er GUT.
Harry ist Mums Goldjunge. Wahrscheinlich sollte ich eifersüchtig sein, aber ich kann sie verstehen. Er ist supercool, weil nichts an ihm aufgesetzt ist. Er trägt alte Jeans, die vom Radfahren ausgefranst sind und nicht von irgendeinem Designer, das T-Shirt einer unbekannten Band, die er mal vor drei Jahren auf dem Land gesehen hat, und Flipflops. Er hat dunkelbraune Locken, wie ich, und er vergisst ständig, sie schneiden zu lassen, so dass sie ihm ins Gesicht hängen. Seine Stimme ist tief und klingt immer, als wollte er gleich einen Witz erzählen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Edie auf ihn steht, aber sie gibt es nicht zu. Wäre da nicht der krasse Altersunterschied und die Tatsache, dass er MEIN BRUDER ist, würden sie vielleicht eines Tages ein schönes Paar abgeben, denn wie Edie ist er superlieb, und anders als Edie ziemlich charmant, so dass er ihre diplomatischen Schwächen ausgleichen könnte.
Harry kommt nach meiner Mutter, die immer noch schön ist, und das nach all den Jahren. Sie hat diese Knochenstruktur, dieModels haben müssen (»Wangenknochen, Liebling; wie schade, dass du die deines Vaters hast«), und glatte Haut und Lippen, die aussehen, als wären sie mit Bienenwachs aufgepumpt, was sie aber nicht sind. Allerdings solltet ihr mal meine Großmutter sehen – neben der sieht Mum geradezu unscheinbar aus, und das, obwohl Granny alt genug ist, um, na ja, um meine Großmutter zu sein.
Jedenfalls hat Harry die drei Fotos auf dem Tisch ausgebreitet. Eins davon muss er für ein Projekt auswählen, und er will von Mum wissen, welches sie am besten findet.
»Das Thema ist Street-Style«, erklärt er. »Ich habe Leute aus der Gegend fotografiert, die mir aufgefallen sind.«
Es sind Schwarz-Weiß-Fotos, und Harry hat sie groß abgezogen. Offensichtlich hat er das schicke neue Objektiv benutzt, das er sich kürzlich zugelegt hat, denn der Vordergrund ist scharf und der Hintergrund ist stark verschwommen. Er ist ungeheuer stolz auf dieses Objektiv. Ich habe vorher noch nie so viele unscharfe Hintergründe gesehen.
Jedenfalls sehen wir uns alle das erste Bild an, das eine Frau in einer schwarzen Burka zeigt; durch den schmalen Schlitz im Stoff sind nur die Augen zu sehen.
»Das würde ich nicht Street-Style nennen«, sagt meine Mutter. »Das ist Ironie. Weiter.«
Sie wirft Harry einen strengen Blick zu, und er holt verlegen das nächste Foto vor. Mum beginnt es durch ihre Brille zu mustern, doch ich schaue gar nicht hin, weil ich das Foto dahinter entdeckt habe.
»Pass auf! Vorsicht!«
Oh nein. Vor Schreck habe ich mein Wasser AUF DER MARMORPLATTE verschüttet und es läuft zielstrebig auf die Burka zu. Harry sammelt seine Bilder ein, und ich hole einen Lappen. Meine Mutter schürzt die Lippen, auf ihre typische Art.
»Was ist denn mit dir los?«, fragt Harry sauer, als ich aufgewischt habe. Wenigstens war es kein Smoothie.
»Das Mädchen auf dem letzten Foto. Es war nur … ich hab sie schon mal gesehen.«
»Überrascht mich nicht«, sagt er unbeeindruckt. »Ich hab das Foto in der Nähe vom V&A gemacht, und das ist ja bekanntlich dein zweites Wohnzimmer.«
Harry legt die Fotos wieder auf den Tisch. Mum entschürzt die Lippen und mustert das letzte Bild.
»Oh. Das ist eindeutig das beste. Wer ist sie?«
Ich sehe es mir noch mal an und bin immer noch
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