Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
überhaupt aufkreuzt. Die letzten beiden Male hat sie geschwänzt, und wenn sie diesmal wieder fehlt, kriegt sie Riesenärger mit der Schule.«
»Was machst du eigentlich mit ihr?«, fragt Jenny.
»Wir lesen. Sie ist Legasthenikerin. Ernsthafte Legasthenikerin. Ihr Gehirn ist für Rechtschreibung einfach nicht geschaffen. Letzte Woche haben wir uns eine Stunde lang mit dem Wort ›Stuhl‹ beschäftigt. Ich versuche ihr Lesestrategien beizubringen.«
Jenny und ich haben keine Ahnung, was Lesestrategien sind, aber wir fragen lieber nicht. Sonst würde uns Edie die ganze Fahrt damit zutexten.
Als wir in der U-Bahn sitzen, holt sie ein paar Bücher aus der Tasche und zeigt uns, womit sie das Mädchen diese Woche zum Lesen verführen will. Es sind lauter Geschichten von kleinen Kindern und Tieren, mit großen Buchstaben und kurzen Wörtern, keins mehr als zwei Silben lang. Dann zieht sie den Jane-Austen-Roman raus, den sie gerade liest, und vertieft sich darin. Wie ich sie kenne, ist sie bis heute Abend damit fertig.
Jenny und ich steigen in South Kensington aus und verabschieden uns von Edie. Zum V&A ist es ein kurzer Spaziergang durch die Frühsommersonne. Ich liebe das V&A. Die Gebäude sind groß und bunt und imposant und weitläufig. Man kann sich tagelang darin verlaufen. Wie immer nehmen wir den Weg durch die Kostümsammlung, damit ich meine Dosis modischer Inspiration inhalieren kann.
Voller Ehrfurcht bleibe ich vor einem Hochzeitskleid von John Galliano stehen, als Jenny nach meiner Hand greift und daran zerrt.
»Au!«
»Schau mal!«, flüstert sie so laut, dass sie genauso gut in ein Megafon schreien könnte.
»Was denn?«
Sie fängt zu kichern an. »Ich fürchte, Edie hat heute kein Glück.«
Ich folge ihrem Blick. Dort, vor meiner Lieblingsvitrine – in der eine bestickte Robe aus dem achtzehnten Jahrhundert ausgestellt ist –, sitzt ein kleines schwarzes Mädchen mit einer Schultasche und einem Notizblock und zeichnet fleißig. Dann sehe ich, was Jenny meint. Das Mädchen hat blaue Baumwolllatzhosen an, doch darüber trägt es ein riesiges rosa Tutu und an den Schultern ein Paar abgewetzte Elfenflügel. Auf dem Kopf hat sie eine himmelblaue Häkelbaskenmütze, die über und über mit bunten Perlen bestickt ist. London ist eine schrille Modestadt, aber dieses Outfit fällt sogar hier auf.
Das Mädchen ist so versunken, dass es uns gar nicht bemerkt.
»Sollen wir sie ansprechen?«, fragt Jenny.
Ich schüttele den Kopf. »Nicht unser Problem.«
»Aber Edie hat was von Riesenärger gesagt, wenn sie nicht hingeht.«
»Wir können doch nicht einfach zu einem wildfremden Mädchen gehen und ihm sagen, dass es zur Nachhilfe gehen soll. Sie hält uns für gaga.«
»Na ja, ganz normal ist sie ja auch nicht.«
Das fasse ich als persönliche Beleidigung auf. Ich vertrete dieMeinung, dass Menschen, die sich anders kleiden als die Masse, nicht in Schubladen gesteckt und verurteilt werden dürfen. Deshalb schnaube ich entrüstet und lasse Jenny stehen. Sie läuft mir hinterher.
»Tut mir leid, Nonie. Das war nicht so gemeint … du weißt doch, was ich meine.«
Im Café trinken wir schweigend unsere Smoothies. Ich versuche, immer noch gekränkt zu wirken, aber ich habe ein schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich hatte Jenny Recht. Das Mädchen bekommt Ärger und wir hätten sie wahrscheinlich davor bewahren können. Ich bin in solchen Dingen einfach nicht so anständig wie Jenny.
Jenny macht ein sorgenvolles Gesicht. Schließlich gebe ich nach und frage sie, was los ist.
»Ach, nichts … Ich habe nur gerade an nächste Woche gedacht.«
Jetzt habe ich erst recht ein schlechtes Gewissen. Heute sollte der letzte fröhliche Freundinnentag für Jenny sein, bevor der Rummel mit den Interviews und Presseterminen losgeht und sie sich nur noch von ihrer besten Seite zeigen kann.
Viele vierzehnjährige Mädchen träumen davon, ein Hannah-Montana-Leben zu führen und neben Hollywoods heißestem Paar und dem grünäugigen, siebzehnjährigen, rattenscharfen Joe Yule (oder Joe so Cool, wie er von der Presse und sabbernden Fans genannt wird) auf dem roten Teppich zu stehen. Jenny nicht. Ihr graut es vor dem großen Auftritt, und wir machen es ihr auch nicht gerade leichter.
Wenigstens kommt ihr Vater mit und leistet ihr Gesellschaft.Derselbe Vater, der ihre Mutter wegen seiner zweiten Geliebten und dritten Frau sitzenließ, als Jenny zwei war, und dann FÜNF JAHRE LANG ihre Existenz ignoriert hat. Andererseits
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