Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
ist er in letzter Zeit etwas netter gewesen, also geben wir ihm eine zweite Chance.
Trotz ihres Vaters, der früher mal ein wichtiger Theaterregisseur war, wollte Jenny Schauspielerin werden, seit sie vier war. Ihre Imitation von Simon Cowell aus der X-Factor-Jury, wenn er sich über einen Kandidaten aufregt, ist so komisch, dass es wehtut. Sie macht auch die Kandidaten nach, meistens einen alternden Breakdancer oder eine schüchterne graue Maus, die die hohen Töne nicht trifft. Wir müssen jedes Mal betteln, dass sie aufhört, damit wir wieder Luft bekommen.
Vor ein paar Jahren hat Jenny in der Schule die Hauptrolle im Musical Annie gespielt. Musicals und alles, was mit Theater zu tun hat, werden an unserer Schule ganz GROSSgeschrieben. Manche gehen direkt nach dem Abschluss auf die Schauspielschule. Jenny war zwölf und spielte mit Leuten, die sechs Jahre älter waren als sie. Trotzdem war sie witziger, lauter und unterhaltsamer als alle anderen. Natürlich hat es geholfen, dass ihr die Rolle der niedlichen Rothaarigen mit der tollen Stimme auf den Leib geschrieben war, aber für so viel Applaus und Zugabe-Rufe braucht man auch Talent.
Am Ende stellte sich raus, dass unter den Eltern im Publikum eine Casting-Agentin aus der Filmbranche war. Und eh sie sich’s versieht, ist Jenny in Hollywood und unterhält sich mit Hollywoods heißestem Paar am Pool von deren Strandvilla. Sie waren gerade auf der Suche nach einem Mädchen mit britischem Akzent für die Rolle von Joe Yules kleiner Schwester in einem neuenActionstreifen. Kid Code , die abenteuerliche Geschichte eines Londoner Jungen, der Hieroglyphen lesen kann. Die Mumie trifft auf Jäger des verlorenen Schatzes , mit einem Teenagerhelden und seinen unfassbar schönen Eltern (ratet, wer die spielt).
Und so ging Jenny nach Hollywood, drehte überall auf der Welt, jagte Fieslinge, wurde von Fieslingen gejagt und führte witzige Dialoge mit Joe so Cool. Was man mit dreizehn eben so macht.
Das Problem war, dass keiner daran dachte, sie auf die Arbeit vor der Kamera vorzubereiten. Davon erzählte sie mir in langen E-Mails, die sie nachts nach hektischen Drehtagen schrieb. Es war kaum Zeit für Proben. Sie sollte einfach ihren Text auswendig lernen und dann rausgehen und ihn aufsagen. Ständig warf man ihr vor, sie dürfe nicht schauspielern . Alles, was sie gelernt hatte – dass man für die Bühne übertreiben muss –, sollte sie für den Film wieder verlernen. Vor der Kamera muss man untertreiben . Wenn der Regisseur sagte, sie soll mit den Augen spielen, sprang er anschließend frustriert im Dreieck und schrie sie an, sie würde ihn »FERTIGMACHEN MIT IHRER UNAUFHÖRLICHEN AUGAPFELROLLEREI«.
Und wenn sie nicht vor der Kamera stand, kam sie um vor Langeweile wegen der stundenlangen Warterei, sagte sie. Man kann nur begrenzt Sudokus lösen und Mario-Karts spielen, bevor man sich fragt, ob einem das Gehirn wegschmilzt.
Ich glaube nicht, dass Jenny nur einen einzigen Tag am Set richtig glücklich gewesen ist. Und jetzt, wo die Dreharbeiten zu Ende sind, muss sie jedem Journalisten erzählen, wie toll und was für eine große Ehre es war, mit so vielen berühmten Schauspielern zu arbeiten, und wie sehr sie sich darauf freut, dass der Film endlich rauskommt.
Um sie aufzumuntern, schiebe ich meinen Smoothie zur Seite und lüge, dass sich die Balken biegen, indem ich ihr versichere, dass sie in dem Kleid supertoll aussehen wird, wenn ihre Haare erst mal gemacht sind und sie richtig geschminkt ist und so weiter. Sie glaubt mir beinah.
Dann überrede ich sie, ein paar hoffnungsvolle neue X-Factor-Kandidaten zu imitieren. Zuerst weigert sie sich, aber sie kann nicht anders und macht sofort einen minderjährigen Möchtegern-Tenor nach, und ich breche vor Lachen unter dem Tisch zusammen. Die Leute um uns rum werfen uns böse Blicke zu, und wir beschließen, dass es Zeit ist zu gehen.
Auf dem Rückweg durch die Kostümsammlung ist das Mädchen im Tutu verschwunden.
Am nächsten Tag passiert etwas sehr Seltsames.
Ich bin gerade in der Küche und hole mir was zu trinken, als meine Mutter mit meinem Bruder Harry reinkommt, um irgendwas zu besprechen. Die Küche ist bei uns der Ort, an dem normalerweise alles stattfindet. Sie ist groß und weiß und voller Markengeräte, bei denen wir keine Ahnung haben, wie man sie sauber macht. Der Küchentisch ist aus italienischem Marmor (»fass ihn nicht an, setz dich nicht drauf, kritzel nicht drauf rum und kleckere um
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