Modemädchen Bd. 3 - Wie Sahnewolken mit Blütentaft
der Bühne, und sie hat ihn auch entdeckt. Vorne in der Reihe dreht jemand den Kopf und wir sehen eine Silhouette mit einem wohlgeformten Kinn und einer geraden Nase. Er späht in unsere Richtung. Jenny ruft wieder seinen Namen. Sie ist vielleicht klein, aber sie ist rothaarig und war neulich in der Vogue. Wenn sie will, kann sie sich bemerkbar machen.
Vicente sieht uns und macht ein verblüfftes Gesicht. Er ist es eindeutig. Jenny läuft sofort auf ihn zu und küsst ihn auf beide Wangen. Ich weiß nicht genau, was ich tun soll: unseren Platz in der immer länger werdenden Schlange bewachen oder hingehen und Hallo sagen. Aber da Jenny mir hektisch zuwinkt, habe ich keine Wahl. Ich kämpfe mit ihrem Gepäck und lade es zu Vicentes Füßen ab, der genauso verlegen wirkt, wie ich es bin. »Nonie! Was für eine charmante Überraschung«, sagt er, »und du, Jenny. Du bist doch Jenny, oder? Habt ihr eine aufregende Reise gemacht?«
Als Jenny endlich damit fertig ist, ihm alles über das Musical zu erzählen, ist er ganz vorne in der Schlange, und die Leute hinter uns starren Jenny und mich mit solchem Hass an, dass er uns praktisch einen Platz in seinem Taxi anbieten muss, um uns vor dem Lynchmob zu retten. Dankbar nehmen wir an.
Jenny sieht sich im geräumigen schwarzen Inneren des Taxis mit den Klappsitzen um und macht es sich gegenüber von Vicente und mir glücklich seufzend bequem.
»Londoner Taxis«, sagt sie. »Wie romantisch. Aber müssten Sie nicht eigentlich mit einer Limousine fahren, Vicente?«
Vicente lacht. »Warum? Wenn man beim Taxifahren so attraktive Gesellschaft findet.«
»Bist du länger in London?«, frage ich.
»Ein paar Wochen.« Bei all seinem Charme wirkt er immer noch überrascht und ein bisschen verlegen. Als hätte er sich noch nicht von dem Schock erholt. Dann piept sein Telefon, und er liest diskret eine SMS. Sofort kommt dieses warme Leuchten über ihn, das ich so gut von Mum kenne. Er blickt auf, sieht meinen Blick und wirkt so peinlich berührt wie Jenny, als ich sie auf die Paparazzi angesprochen habe.
Jenny hustet leise. Dann hustet sie noch mal. Ich kapiere, dass sie mir ein Zeichen geben will. Sie sieht mich durchdringend an. Ich versuche sie zu ignorieren, aber sie lässt nicht locker. Glücklicherweise ist Vicente damit beschäftigt, die SMS zu beantworten, und es fällt ihm nicht auf. Ich versuche Jenny, die inzwischen Stielaugen hat, mit Blicken zum Schweigen zu bringen. Sie sieht zu Vicente und wieder zu mir und dann nickt sie wissend, bevor sie süßlich grinst.
Ich kenne Jenny schon sehr lange. Die meisten Leute würden denken, sie hat ein Staubkorn im Auge, das sie wegzublinzeln versucht, aber ich weiß, was sie sagen will: »Meinst du, die SMS war von deiner Mutter? Ist er zu einem romantischen Stelldichein hier? Aha, sieh mal, er schreibt zurück! Ist das nicht süß?«
Ich zucke die Schultern. Ich versuche mir verzweifelt einzureden, wie falsch ich mit meiner Vermutung liege, aber das Problem ist, ich denke dasselbe wie Jenny. Was auch erklärt, warum Vicente so verlegen ist. Mum versucht seit Monaten ihre neue Beziehung vor mir geheim zu halten. Nicht dass es aus meiner Sicht eine tolle Nachricht ist, aber Tatsache bleibt, sie ist verliebt. Und der Mann, in den sie verliebt ist, kommt den ganzen Weg aus Brasilien, um Weihnachten mit ihr zu verbringen. Langsam könnte sie wirklich die Karten auf den Tisch legen.
Ich beschließe ihr die Arbeit abzunehmen.
»Du musst unbedingt mal wieder zum Abendessen kommen«, sage ich, nachdem er auf Senden gedrückt hat. »Mum würde sich bestimmt freuen. Harry ist auch da – zumindest ein paar Tage. Ihr müsst euch unbedingt sehen.«
Vicente sieht geschmeichelt und entsetzt zugleich aus. »Oh. Das ist aber lieb, Nonie. Natürlich wollte ich mich melden und euch zum Essen ausführen. Harry und ich haben schon miteinander gesprochen …«
Mann, ist das peinlich. Er versucht großzügig und hilfsbereit zu sein, und ich reite mich immer schlimmer rein. Offensichtlich hat er alles so eingefädelt, dass er Mum und Harry sieht und will mir nichts davon sagen . Und ich habe alles kaputt gemacht. Aber jetzt ist es zu spät.
Ich werfe Jenny einen Blick zu und hoffe, das Gespräch war nicht so schlimm, wie es sich angefühlt hat. Doch kaum sieht Vicente aus dem Fenster, verdreht sie die Augen und bewegt die Lippen zu einem wortlosen »Autsch«.
Na toll.
Weihnachten besteht aus einer Reihe von seltsamen Zusammenkünften. Daran bin
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