Moderne Piraten
mit ein paar Seilenden zurück. Sorgfältig fesselte er dem Bewußtlosen Füße und Hände. »Besser ist besser! Man kann nicht wissen. – So, jetzt wollen wir uns den Vogel mal genauer besehen!« Er griff in das Haar. Ein kurzer Ruck, die graue Perücke blieb in seiner Hand, kräftiges, volles Haar fühlte er darunter. Mit einer elektrischen Taschenlampe leuchtete er dem Bewußtlosen ins Gesicht.
Eine maßlose Wut packte Henke. Das also war’s! Mit einer Verkleidung hatte der niederträchtige Lümmel ihn gefoppt. Wahrscheinlich hatte der auch den andern mit dem blonden Vollbart gespielt, und – hatte der Schurke am Ende auch seine Briefe abgeholt?
Ein leises Stöhnen wurde vernehmbar. Kam der Gefangene wieder zum Bewußtsein?
»Du Lump! Du Luder! Warte, du Schuft, mit dir bin ich noch nicht fertig!«
Er trug den Rucksack in den Ballonkorb, schleppte auch den gefesselten Jungen dorthin und warf ihn in den Korb. Dann stieg er selbst hinein. Vorsichtig begann er Sandsäcke vom Korbrand abzuhaken und beiseite zu werfen. Sandsack um Sandsack fiel zu Boden. Ein leises Schüttern ging durch den Korb, als wenn sein Boden auf dem Rasen schürfe. Schnell warf Henke noch zwei Ballastsäcke fort. Der Korb kam von der Erde frei, der Ballon stieg empor. In wenigen Sekunden hatte er die Höhe des Gasometers erreicht und kam aus dem Windschatten heraus. Ein strammer Südost faßte ihn und führte ihn in schneller Fahrt nach Nordwesten davon. Tief unter ihm schon zogen die Häuser und die Straßenlichter von Gorla dahin. Während Henke seine Aufmerksamkeit den Meßinstrumenten widmete, drangen Glockentöne an sein Ohr. Die Uhren in Gorla schlugen Mitternacht.
Sorgsam beobachtete Henke den Höhenzeiger. Um sicher über den Gasometer hinwegzukommen, hatte er beim Abflug etwas reichlich Ballast ausgeworfen. Noch immer war der Ballon im Steigen. Sechshundert Meter – achthundert – nun wurde der Aufstieg allmählich langsamer. In tausend Meter Höhe kam der Ballon ins Gleichgewicht und trieb mit beträchtlicher Schnelligkeit in nordwestlicher Richtung dahin.
Zu merken war freilich hier im Korb nichts von dieser Fahrt, denn der Ballon hatte ja genau die gleiche Geschwindigkeit wie die ihn umgebende Luft. Hätte man ein Licht in der Gondel angezündet, es würde so ruhig und unbewegt gebrannt haben wie in einem geschlossenen Zimmer. Nur die tief unten auftauchenden und nach Südosten zurückbleibenden Lichter zeigten den schnellen Flug an.
Jetzt folgte der Ballon längere Zeit einem Stromlauf. Henke breitete eine Karte aus und versuchte sich auf ihr mit Hilfe seiner elektrischen Taschenlampe zu orientieren. Der kleinere Ort da gerade unter ihm konnte nur Schönebeck an der Elbe sein. Dann mußte der helle Schein am Horizont gerade voraus von den Lichtern Magdeburgs kommen. Er überschlug die Entfernung und sah auf die Uhr. Er hatte gute Fahrt. Kaum eine Stunde würde er von Gorla bis Magdeburg brauchen. Wenn es so weiterging, konnte er gegen drei Uhr morgens schon weit in der Lüneburger Heide sein.
Hallo, was war das? Die langen Papierstreifen, die vom Gondelrand hinaushingen, standen plötzlich hoch oben. Ein Zeichen dafür, daß der Ballon nicht mehr im Gleichgewicht war, sondern stark fiel. Er schnitt die Verschnürung an einem Ballastsack auf und begann den Sand händeweise über Bord zu schütten; viermal – fünfmal – sechsmal – dann wirkte es. Der Fall hörte auf, die Streifen sanken wieder langsam in die Tiefe.
Immer näher waren inzwischen die starken Lichter im Nordwesten gekommen. Kein Zweifel, es war Magdeburg, über das der Ballon eben hinwegtrieb. Doch nun stockte die Fahrt. Es schien, als ob der Ballon trotz des guten Windes hier kleben bleiben wolle. Ballon und Gondel begannen sich um ihre Vertikalachse zu drehen. Zwei verschiedene Kräfte schienen auf den Ballon einzuwirken. Eine, die ihn in der Windrichtung nach Nordwesten weitertreiben wollte, und eine andere, die ihn in der Richtung des Flußlaufes festhielt, der hier in scharfem Knick nach Nordosten abbog.
Fünf Minuten – zehn Minuten schon dauerte das Windspiel der Kräfte. Der Ballon kam kaum vom Fleck und drehte sich ständig.
»Verdammt!« tobte Henke. »Der Fluß läßt uns nicht los. Versuchen wir’s anders!« Wieder griff er in den Sandsack. Staubwolken fielen nach unten, der Ballon stieg, am Zeiger des Höhenmessers war’s deutlich zu lesen. Vierzehnhundert Meter – fünfzehnhundert Meter – dann war’s, als ob es plötzlich einen
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