Modesty Blaise 02: Die Lady bittet ins Jenseits
den Mund des Kindes, als es Atem holen und zu schreien beginnen wollte.
«Willie. Rasch.»
«Einen Arm, Prinzessin.» Der Arm fühlte sich in Willies Hand wie ein Stock an. Er sah Modestys maskenhaften Ausdruck, und er wußte, daß ihr bei der ganzen Sache ebenso elend zumute war wie ihm selbst.
Seine Finger tasteten den kleinen Muskel ab, und dann stach er zu.
Der kleinen Lucille mußten die beiden Erwachsenen wie Ungeheuer erschienen sein, die sich auf sie stürzten, sie erstickten und ihr weh taten. Willie zog die Nadel wieder heraus, hielt aber noch immer den dünnen Arm fest. Nach etwa zwanzig Sekunden, die eine Ewigkeit zu währen schienen, ließ der heftige Widerstand nach, und schließlich sank der kleine Körper schlaff zurück.
«Du lieber Gott», sagte Willie leise und wischte sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn. «Armes kleines Häschen.»
Modesty erhob sich mit dem in eine Decke gewickelten Kind im Arm. «Du gehst voran, Willie.»
Er zog ein Messer, faßte es an der Spitze und ging ihr mit der abgeblendeten Taschenlampe in der freien Hand voraus. Sie begegneten niemandem auf ihrem Weg hinab in den
Seraglio
.
Zwei Minuten später traten sie durch die Tür ins technische Lager.
Willie steckte das Messer wieder in sein Halfter und führte Modesty zwischen Regalen und Pulten zum Ausgang. Er beugte sich hinab und schloß die Tür mit einem Sperrhaken auf.
«Geht’s, Prinzessin? Soll ich sie tragen?»
«Sie ist nicht schwer. Es ist besser, du hast die Hände frei.» Er nickte. Seine Messer arbeiteten lautlos. Mit ihrer Pistole hätte sie bloß Alarm geschlagen.
Die Nacht war wie schwarzer Samt. Eine hohe Wolkendecke verbarg den Mond und die Sterne. Sie bewegten sich entlang der Felswand vom Palast weg, bis sie nach etwa zweihundert Metern zu der Stelle gelangten, wo der Fluß auf die andere Seite durchstieß.
Modesty zwang sich, nicht darauf zu achten, daß ihre Last immer schwerer wurde, und konzentrierte sich ganz auf die schemenhafte Gestalt, die ihr voranging. Es war warm und feucht. Sogar den Staub unter ihren bloßen Füßen empfanden ihre abgehärteten Sohlen als warm.
Die Gefahr, gesehen zu werden, war gering. Vielleicht gab es irgendwo einen Mann, der keinen Schlaf fand und frische Luft schnappen wollte, aber es war so dunkel, daß er kaum weiter als zwanzig Schritt hätte sehen können.
Endlich drehte Willie sich um, nahm Lucille aus ihren Armen und legte die kleine, schlaffe, in die Decke gewickelte Gestalt gegen einen niedrigen Felsen.
«Gut gegangen, Prinzessin», flüsterte er. «Du verschnaufst jetzt einmal, und ich bringe dir deine Sachen.»
Drei oder vier Minuten später kam er mit einem großen Tornister über der Schulter zurück. Modesty lag flach auf dem Rücken und atmete tief. Sie stand auf, schnallte ihren Gürtel ab und zog das rote Kleid aus. Er wartete, bis sie das schwarze Hemd, die schwarze Hose und die Uniformstiefel angezogen hatte. Der Kongo verschwand in einer Hüfttasche, der Tränengas-Lippenstift in der Brusttasche, den Gürtel mit Halfter und Colt schnallte sie um die Taille; mit jedem Griff, den sie tat, sah Willie Garvin die bedrückenden Gespenster der Vergangenheit entschwinden. Sie stand ihm in der Dunkelheit gegenüber, und er fühlte einen leichten Schlag, als sie ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte und leise sagte: «Okay, Willie. Jetzt reißen wir einige Wände ein, wie du es vorher tun wolltest. Ich bin wieder ich.»
«Ich ebenfalls.» Sie sah seine weißen Zähne in der Dunkelheit aufblitzen, während er sprach.
Als sie Lucille für den langen Marsch ans Ende des Tales aufnehmen wollte, hielt er sie zurück. «Wir können es uns leichter machen, Prinzessin. Komm mit mir.» Er ging auf das Flußufer zu, das zu einem schmalen Kiesstreifen steil abfiel, schwang sich die Böschung hinab und kroch an ein formloses Gebilde heran, das unmittelbar am Wasser lag. Sie konnte nicht sehen, was er tat, hörte aber nach ein paar Sekunden ein zischendes Geräusch. Das Gebilde dehnte sich aus und nahm Gestalt an. Es war ein Schlauchboot, das sich selbsttätig aufblies, von der Art, wie sie Flugzeuge als Rettungsboote mit sich führen.
«Es wurde gerade in der Werkstätte repariert», flüsterte er, während ihm Modesty Lucille hinabreichte.
«Ich dachte, auf diesem Weg könnten wir das Wachhaus am leichtesten passieren – und ein wenig schneller zurückkommen, falls es nach unserem alten Plan gegangen wäre.»
Wieder staunte sie über
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