Modesty Blaise 02: Die Lady bittet ins Jenseits
Nachthemd. Auch sie hatte die Augen verbunden und hielt eine zusammengerollte Zeitung in der Hand. Willie Garvin, in dunkler Hose und einem blaßgrauen, grobgewebten offenen Baumwollhemd und ebenfalls ein Taschentuch um die Augen, rutschte, auf ein Knie gestützt, in der Mitte des Zimmers herum. In seinem rechten Ohr hatte er, wie Tarrant bemerkte, den Stöpsel der kleinen schwarzen Radarvorrichtung stecken. In einer Hand hatte er einen zusammengeknüllten Bogen braunen Papiers, in der andern eine zusammengerollte Zeitung.
Tarrant blieb stehen und sah ihnen zu. Modesty bewegte sich tastend um den Stuhl herum. Schweigend tauchte sie auf der anderen Seite wieder auf. Lucille kam langsam vorwärtsgekrochen und hielt dann inne.
Willie bewegte sich seitwärts und raschelte mit dem zusammengerollten Papier unter seiner Hand. Modesty stellte fest, woher das Geräusch kam und fing an, vorsichtig darauf loszukriechen. Lucille schob ihre Binde etwas hoch, so daß sie mit einem Auge sehen konnte, erhob sich ein wenig und rutschte dann wie eine Spinne nach vorn, die eingerollte Zeitung hochhaltend.
Willie fuhr mit dem Kopf herum. «Gemogelt!» rief er. Sein langer Arm schwang aus und ließ die Zeitung klatschend auf Lucilles Kopf niedersausen. Das Kind gab ein beleidigtes ‹Au› von sich und fiel bei dem vergeblichen Versuch, auszuweichen, auf die Seite. Willie nahm seine Binde ab, richtete sich auf und sah Lucille an. «Wer mogelt, hat niemals Glück», sagte er ernst und würdevoll.
«Was ist los?» Modesty hob ihre Binde und blickte auf Lucille. «Hast du geguckt, Liebling?»
«Ja, das hat sie», erklärte Willie. Alle drei hatten sich nun aufgerichtet. «Ich erkannte es an dem Rutsch, den sie machte. So schnell kommt man nicht weiter, ohne zu schauen.»
«Jetzt hat er mich aber stark geschlagen, Modesty», jammerte Lucille.
«Übertreib bloß nicht», beschwichtigte sie Willie und grinste. «Mit einer Zeitung kann man niemanden stark schlagen.» Er stand auf, nahm Lucille hoch und legte sie über seine Schultern wie einen Sack. «Aber so geht’s einem, wenn man beim Schwindeln erwischt wird, verstehst du?»
«Er meint, so geht’s einem, wenn man schwindelt», verbesserte Modesty hastig. Sie sah Tarrant in der großen Halle stehen und erhob sich mit einem Lächeln.
«Entschuldigen Sie, Sir Gerald, wir hörten Sie nicht kommen.»
«Sie waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt», erwiderte Tarrant und kam die Stufen ins Wohnzimmer herab, um Modesty zu begrüßen.
Lucille, die über Willies Schultern lag, sagte höflich:
«Guten Abend.»
«Hallo, Lucille! War es ein nettes Spiel?» hörte sich Tarrant zu seiner Verzweiflung mit einer völlig unechten Jovialität sagen.
«Ja, danke.»
«Fein. Nun also … äh …»
«Ins Bett jetzt», rief Willie heiter. «Komm, Liebling, wir gehen. Sag Modesty und Sir Gerald gute Nacht.»
«Gute Nacht, Modesty.» Modesty bekam einen flüchtigen Kuß auf die Wange. «Gute Nacht, Sir Gerald.»
Tarrant tätschelte unbeholfen die kleine Hand.
Willie ging mit seiner Last weg und verschwand in dem Durchgang, der von der Halle wegführte.
«Nehmen Sie Platz, während Weng und ich ein bißchen aufräumen», lud Modesty ihn ein und begann die Möbel, die für das Blinde-Kuh-Spiel beiseite geschoben worden waren, wieder an Ort und Stelle zu rücken. «Ich möchte lieber herumgehen», sagte Tarrant, «wenn es gestattet ist.» Er trat an die breiten, geschwungenen Borde in der Ecke heran.
Die Löwenuhr nach Caffieri, die beiden Sèvresteller und einige andere Stücke, an die er sich erinnerte, waren nicht mehr da. Statt dessen gab es einen holländischen Freundschaftsbecher, ein Paar Kerzenleuchter in der Form korinthischer Säulen aus der Zeit Georgs II.
und einige japanische
netsukes
, aus Elfenbein geschnitzt.
Weng las die Zeitungen auf und ging in die Küche hinaus.
«Ich fürchte, ich habe überhaupt keine Hand für Kinder», gestand Tarrant, als Modesty herbeikam und sich neben ihn stellte. «Und Lucille ist für mich ganz besonders verwirrend.»
«In welcher Hinsicht?»
«Sie ist sehr in sich gekehrt. Die Art, wie sie einen ansieht, setzt einen in Verlegenheit. Selbst Ihnen und Willie gegenüber …» Er zögerte. «Ich weiß nicht. Ist sie vorsichtig? Fehlt es ihr an Herzlichkeit? Ist sie zu wenig zutraulich, oder alles das zusammen?»
Modesty sah ihn erstaunt an. «Weshalb sollte sie zutraulich sein? Willie hat ihr die letzten drei Jahre ein angenehmes Leben
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