Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
hatten knappe dreißig Meter ergeben.
Willie griff nach dem Sturzhelm und der Plane.
Während er sich an die Arbeit machte, wurde sein Körper von lautlosem Lachen geschüttelt.
22 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Mauer, standen Joe Abrahams und Tarrant in einer Seitengasse der Brunnenstraße. Abrahams war ein schlanker, energiegeladener junger Mann. Zuerst hatte ihn Dalls Einmischung geärgert, doch sobald Tarrant ihm erklärte, worum es ging, wurde er von Begeisterung gepackt. Er bedauerte bloß, daß in den drei Kameras, die man aufgestellt hatte, um die Szene aufzunehmen, die man zu drehen vorgab, keine Filme waren.
Abrahams zauberte ein Netz herbei, das heißt, er rief seinen Versorgungsmann in Bonn an und ließ es von dort einfliegen. Es war zwölf Meter lang und fünf Meter breit. In diesem Augenblick lag es, sorgsam zusammengefaltet, auf den Dächern von drei großen Lastwagen, die Seite an Seite vor dem offenen Gelände standen, das sich vom Ende der Seitengasse bis zur Mauer erstreckte.
Es gab die übliche scheinbare Verwirrung, die bei Filmaufnahmen unvermeidlich ist. Scheinwerfer wurden aufgestellt und mittels langer Kabel von einem Generator gespeist. Auf Klappstühlen saßen Leute herum und tranken Kaffee, den ein Kantineur servierte. Andere riefen Anweisungen oder markierten mit Kreide die Plätze, welche die Schauspieler einzunehmen hatten, wenn die Aufnahme begann.
Abrahams fuhr mit den Fingern durch seinen wirren Haarschopf und sagte: «Hoffentlich feuern Ihre Artilleriefreunde genau um 10 Uhr 15. Wenn wir das Netz auslegen, können es die Kerle auf den Wachtürmen zwar nicht sehen, weil wir die Scheinwerfer entsprechend eingestellt haben. Es wird jedoch kaum fünf Minuten dauern, bis die westdeutsche Polizei kommt, Vermutungen anstellt und uns zwingt, es wegzunehmen.»
«Meine Artilleriefreunde sind überaus verläßlich», sagte Tarrant. «Legen Sie das Netz um 10 Uhr 12 aus. Dann können Sie die Aufnahme bestimmt noch sieben, acht Minuten verzögern. Im Augenblick, wo der Fisch im Netz gelandet ist, schaffen wir ihn weg, bevor irgend jemand merkt, was los ist. Und machen Sie sich bitte keine Sorgen um Ihr Team. Die Ostdeutschen schießen nicht nach dem Westen. In ihre eigene Todeszone sofort. Aber nicht über die Mauer.»
Ein Rand des Netzes war an den oberen Fenstern eines leeren Gebäudes befestigt, vor dem die drei Lastwagen, eng nebeneinander, parkten. Auf Abrahams Signal würden die drei Autos sich langsam vorwärts bewegen, bis sie eine genau markierte Linie auf dem offenen Gelände, etwa zehn Meter von der Mauer entfernt, erreicht hatten. Dann würde das Netz gespannt sein.
Der Berliner Agent sah zum zehntenmal auf seine Uhr und sagte: «Noch acht Minuten. Ich halte die beiden immer noch für verrückt.»
«Ich hoffe, Sie haben die Planskizze und die Maße kontrolliert», sagte Tarrant. «In diesem Fall ist Genauigkeit lebenswichtig.»
«Ganz bestimmt für Okubo», sagte der Berliner Agent mit Nachdruck. «Ich habe alles dreimal nachgeprüft. Aber bitte schicken Sie die beiden niemals aus,
mich
über die Mauer zu schaffen.»
Abrahams grinste vergnügt. «Es sind schöpferische Menschen», sagte er. «Ich liebe sie. Wer immer sie sind, ich liebe sie!»
Modesty bog von der Weinbergstraße ab in das Gewirr der Nebengassen. Sie fuhr jetzt einen anderen Lieferwagen, einen Wäschereiwagen, den sie vor zwanzig Minuten auf einem Parkplatz gestohlen hatte. Sie trug ein einfaches Kopftuch, und ein weiter Pullover verdeckte die Kleider, die sie als Jorgensens Sekretärin trug.
Sehr bald sah sie im Licht der Scheinwerfer den drei Meter hohen Stacheldrahtzaun, der parallel zur Mauer verlief und einen zehn Meter breiten Streifen abgrenzte, wo Wachen und Hunde patrouillierten – den Todesstreifen. Hinter ihr verschwanden die Lichter des schwerfälligen Möbeltransporters, als er abbog.
Sie sah auf die Uhr und fuhr langsam weiter. Okubo würde eine Luftreise von 29 Metern zurücklegen, zehn auf dieser Seite der Mauer, neunzehn auf der andern.
Wenn das Netz sich zur richtigen Zeit in der richtigen Position befand, war Okubos Risiko nach Willies Ansicht sehr gering. Und das Netz war Tarrants Angelegenheit. Darum machte sie sich keine Sorgen.
Sie drehte um und fuhr eine parallel zur Mauer verlaufende Straße entlang, die westlichste Straße, die für den Verkehr erlaubt war. An jeder Kreuzung war die Straße zu ihrer Rechten eine Sackgasse, die nur zum Stacheldrahtzaun und der
Weitere Kostenlose Bücher