Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
zurück. Eine Sekunde später krachte es, und auf die Stelle, wo ich eben gelegen hatte, fielen Unmassen von Steinbrocken.
«Allmächtiger.», sagte ich, und das war alles, was ich für eine Weile hervorbringen konnte. Die Prinzessin kniete, die Taschenlampe und den Colt auf Rodelle gerichtet. Keiner sprach ein Wort. Als ich mich wieder bewegen konnte, tastete ich ihn ab. Sein Schulterhalfter war leer und ebenso seine Taschen.
Die Prinzessin legte den Colt weg, und wir besahen uns wieder den verrückten kleinen Tunnel. Ich hatte eine Seilrolle in meinem Sack, aber wir konnten nicht einfach herausklettern und ihn hinter uns herziehen. Es machte mir wenig, daß er als letzter die schlechtesten Chancen hatte, aber dieser Tunnel durch den Trümmerhaufen war keine glatte Ruine, sondern er schlängelte sich durch verkeilte Balken und Steinblöcke, deren Gleichgewicht recht fraglich war.
Ein gelähmter Mann, den man da hindurchzuziehen versucht, muß alle paar Zentimeter steckenbleiben.
Zieht man stärker, bricht die ganze Geschichte über ihm zusammen. Ich wartete, daß die Prinzessin sagen würde, was sie erfahrungsgemäß in einem solchen Fall sagt, und mein Magen zog sich zu der Größe eines Golfballs zusammen.
Ein wenig ärgerlich und mit leicht irritierter Stimme sagte sie: «Also fangen wir an. Du gehst zuerst, Willie. Ich komme mit ihm nach und helfe ihm über die Hindernisse.»
Ich hätte gern etwas erwidert, aber es hatte keinen Sinn. Ich bin stärker, und daher mußte ich am Seil ziehen. Ich schob Rodelle auf dem Rücken zum Fuß des Steinhügels, legte eine Schlinge um seine Achselhöhlen, nahm das andere Ende des Seils und begann den Aufstieg durch das ungewisse Loch. Es war eine fürchterliche Reise. Ich spürte, wie alles zitterte, einschließlich meiner selbst. Aber nichts brach zusammen, und schließlich gelangte ich durch ein Loch im Fußboden, wo die Bodenhölzer fehlten, auf ein Stück festen Boden im oberen Zimmer. Dann nahm ich vorsichtig das Seil.
Von unten rief die Prinzessin: «Los, Willie.» Ich zog ganz langsam, ein paar Zentimeter pro Sekunde. Nach etwa einer halben Minute rief sie: «Stop.» Ich hörte ein Geräusch und das Poltern von Steinen, die weit unten im Loch herunterfielen. Es schien Stunden zu dauern, und mir brach der kalte Schweiß aus. Ich vergaß zu atmen. Endlich rief sie: «In Ordnung», und ich begann wieder das Zeitlupen-Ziehen. So ging es weiter, Start – Stop – Warten, während sie Rodelle diese Todesfalle hinaufschob. Knarren und Krachen und das Geräusch fallender Steine machten mich ergrauen.
Endlich sah ich ihren Kopf. Sie lag auf dem Rücken, Rodelles Körper auf ihren Beinen. Nur in dieser Stellung konnte sie ihn über die Hindernisse bringen. Auch jetzt übereilte sie nichts, und das war richtig, aber ich mußte mich eisern beherrschen, um nicht wie verrückt zu ziehen.
Vom Anfang bis zum Ende dauerte das Unternehmen zehn Minuten. Dann war sie draußen, und ich zog nochmals an, um Rodelle auf festen Boden zu bringen – das heißt fest im Vergleich mit dem übrigen.
«Das war nicht sehr lustig», sagte sie und wischte mit dem schmutzigen Ärmel ihres Pullovers über das schmutzige Gesicht. Ich war so erleichtert und irgendwie so stolz auf sie, daß ich sie am liebsten umarmt hätte, bis meine Muskeln krachten. Ich nahm einen Dietrich heraus und öffnete das Vorhängeschloß des Fenstergitters, dann holte ich Rodelle. Zwei Minuten später waren wir draußen und hielten nicht an, bis wir den Weg zwischen dem Schloß und der Außenmauer hinter uns hatten; bei einem richtigen Schloß nennt man das Wehrgang, glaube ich.
Ich setzte Rodelle ab, lehnte ihn nahe dem großen Tor an die Wand und begann das Gitter zu öffnen.
«Schenk mir ein paar Minuten», sagte die Prinzessin, setzte sich im Türkensitz nieder, Hände auf den Knien, aufrecht, aber entspannt. Sie begann sehr langsam zu atmen, mit offenen Augen, den Blick ins Leere gerichtet. Ich wußte, daß sie eine von Sivajis Übungen begann, um ihre Nerven zu lockern, und nach dem, was sie hinter sich hatte, nahm es mich nicht wunder. Wären wir allein – ohne Rodelle – gewesen, so wäre sie zu mir gekommen und hätte sich ausgeweint; das hätte sie völlig entspannt. Aber so etwas tut sie nur, wenn wir allein sind.
Ich öffnete das Tor, zündete eine Zigarette an und ging ein paar Schritte zurück zum Schloß. Von außen sah es nicht schlimm aus, da die Außenmauer standgehalten hatte. Ein voller heller
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