Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
Kratzen von Metall auf Metall und rauhe Männerstimmen, dann erreichte sie der Geruch von Leder und Öl, Schweiß und Gewehren. Sie ließ ihre Schultern fallen, preßte die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Wie ein Chor nahmen die verschreckten Kinder ihr Jammern auf, während die Guerillas sich zwischen sie drängten.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Seit zwei Stunden folgten sie einem sich windenden Pfad, der in das Hügelland führte.
Reverend Leonard Jimson schritt an der Spitze seiner Herde, Anfang und Ende der Kolonne bildete je eine Gruppe Guerillas. Jimson sang eine Hymne mit Marschrhythmus und ermunterte die Mädchen, mitzusingen. Die Unterstützung, die er erhielt, war allerdings armselig.
Die Mädchen waren so erschöpft, daß sie zu weinen aufgehört hatten. Modesty Blaise trottete hinter ihnen her – unbeholfen und stolpernd. Mit einem langen Torquilla-Blatt fächelte sie Fliegen und Mücken von ihrem Gesicht. Daß sie sich als harmlosestes Mitglied einer besonders harmlosen Gruppe ausgewiesen hatte, befriedigte sie einigermaßen.
Einigermaßen, nicht ganz. An der Flanke marschierte ein Mann, der älter war als die übrigen Guerillas.
Unter dem zurückgeschobenen Strohhut konnte man ein paar graue Haarsträhnen sehen. Kalte Augen in einem mageren, mißtrauischen Gesicht. In einem erfahrenen Gesicht. Dann und wann blickte er sie nachdenklich an. Das AKM-Sturmgewehr hielt er lässig vor seinem Körper schußbereit.
Sein Name war Rodolfo. Sie hatte gehört, daß man ihn so nannte. Er war nicht der Kommandant der Gruppe. Der Anführer war Jacinto, ein kräftiger, prahlerischer junger Mann mit Sombrero. Modesty stellte fest, daß El Mico seine Leute nicht gut aussuchte; Rodolfo hätte der Verantwortliche sein müssen. Er war bei weitem der fähigste Mann der Gruppe.
Sie hatte kein Wort Spanisch gesprochen. Zweimal hatte sie sich jammernd bei Jimson erkundigt, wie weit es noch sei. Nach einem Wortwechsel mit den Guerillas hatte Jimson beide Male geantwortet: «Nicht sehr weit, glaube ich.»
Sie fragte sich, was in Jimson vorging. Er hatte keine Panik gezeigt und schien mehr damit beschäftigt, die Angst der Kinder zu beschwichtigen, als Vermutungen anzustellen, was weiter geschehen würde. Modesty entnahm den Gesprächen der Guerillas, daß El Mico sie als Stoßtrupp ausgesandt hatte, um die Bergstraße zu blockieren und den Verkehr für 24 Stunden zu unterbinden, während die Kerntruppen im Süden eine größere Operation durchführten. Die 24 Stunden waren vorbei, und während dieser Zeit hatte sich kein einziges Fahrzeug gezeigt. Außer eben dem Bus.
Sie hatten den Bus mehr aus Langeweile beschossen, überlegte Modesty, obwohl sie untereinander vorgaben, daß der Angriff aus irgendeiner militärischen Überlegung oder als Beutezug erfolgt sei. Der Erfolg war in jeder Hinsicht enttäuschend.
Wohl hatten sie in der Handtasche der weinenden Fremden 400 Dollar gefunden, doch der Priester und seine klägliche Herde besaßen praktisch nichts. Ein Jammer, nach einem so klug durchgeführten Manöver!
Doch man konnte die Gefangenen nicht einfach laufen lassen. Das mußte El Mico entscheiden, wenn er kam.
Vielleicht konnte man für die fremde Frau ein Lösegeld verlangen?
Natürlich war man Rebell und Freiheitskämpfer, aber die Praxis, ein Lösegeld zu verlangen, war tief verwurzelt, und es war nicht klug, alle alten und einträglichen Traditionen der Bandoleros zu schnell abzulegen …
Jimson hörte zu singen auf. Einer der Männer aus der vorderen Gruppe hatte zu ihm gesprochen. Er drehte sich um, wies auf die Flanke eines hohen Bergrückens und sagte aufmunternd: «Wir sind beinahe am Ziel, Mädchen. Habt keine Angst. Wir sind friedlich und wir haben nichts zu fürchten. Wenn El Mico kommt, werde ich mit ihm sprechen, und alles wird in Ordnung sein.»
Modesty schnupfte weinerlich und zweifelnd. Der Zweifel war nicht gespielt. Sie ließ das restliche Büschel schweißgetränkter Torquilla-Blätter fallen. Zu Beginn des Fußmarsches hatte sie, nach dem Verlassen der Straße, während der ersten hundert Meter einige der breiten Blätter verstreut. An jeder Stelle, wo es einen Zweifel über die Route gab, die sie nahmen, hatte sie ein weiteres Blatt fallen lassen.
Willie Garvin würde auch in diesem mit Gestrüpp bedeckten Ödland keine Hilfe brauchen, die Spur eines Mannes zu finden, geschweige denn einer ganzen Gruppe. Aber die staubigen, zertretenen Blätter an Stellen, wo es
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