Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
ihn vorsichtig um, sah das Austrittsloch in seiner Brust und wußte, daß er tot war.
Sie hob den Kopf und blickte aus dem Bus. Sieben Männer, gut verteilt, kamen den Hügel herunter und auf die Straße zu. Sie trugen Hosen im Glockenschnitt und Lederjacken. Einige waren barhäuptig, andere hatten formlose Filz- oder Strohhüte, zwei trugen Sombreros. Sie hatten die verschiedensten leichten Feuerwaffen bei sich. Zwei Männer trugen altmodische Patronengürtel, die übrigen Patronentaschen. Ein paar besaßen Stabgranaten, die von ihren Gürteln hingen.
Ein Ruf ertönte, und eine kurze Gewehrsalve peitschte über den Bus. Durch das Fenster sah Modesty weitere fünf Männer die Straße heraufkommen. Sie blickte durch den Gang. Die Mädchen hatten aufgehört zu schreien. Sie waren still oder jammerten leise vor sich hin. Jimson lag mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen auf den Knien; seine Lippen bewegten sich. Sie bahnte sich einen Weg zu ihm und rüttelte ihn unsanft an der Schulter. Er öffnete die Augen. Sein Blick zeigte Besorgnis, keine Angst.
«Bringen Sie die Mädchen hinaus», befahl Modesty.
«Sie gehen als erster mit erhobenen Händen und winken mit einem Taschentuch. Die letzte Salve war eine Warnung.»
Er nickte, stand rasch auf und ging, während er ruhig zu den Mädchen sprach und sie bat, keine Angst zu haben, auf die Tür zu. Modesty nahm ihre Handtasche und folgte ihm. Das sind El Micos Leute, überlegte sie.
Eine kleine Gruppe, die weit in das Hügelland vorgedrungen war. Gefährliche Männer. Guerillas, Rebellen, Bandoleros. Wie man sie nannte hing von der Seite ab, mit der man sympathisierte. Sie wußte nicht, warum sie den Bus beschossen hatten. Es mußte auch keinen bestimmten Grund haben, außer der Tatsache, daß der Bus da war.
Die Mittagssonne brannte herab. Sie stieg aus. Jimson stand vor den Mädchen, die sich bei der Tür zusammendrängten, und winkte mit dem Taschentuch.
Modesty blieb hinter den Mädchen und benutzte sie als Deckung. Sie öffnete die Handtasche und entnahm ihr eine kleine MAB 25-Automatic. Sie ärgerte sich, daß sie ihren Koffer bei Willie gelassen hatte; im Koffer und im Mercedes gab es manches, das sie jetzt gern bei sich gehabt hätte. Ihre Handtasche enthielt bloß Make-up, ein paar Toiletteartikel, die Automatic und eine kleine Blechdose mit einer Erste-Hilfe-Apotheke.
Sie öffnete die Blechdose und nahm eine Rolle Pflaster heraus. Dann stellte sie den Fuß auf das Trittbrett des Busses, zog den Rock hoch und preßte ein Ende des Pflasters an ihre Hüfte. Die MAB-Automatic war in diesem Augenblick – gegenüber den Läufen von einem Dutzend Gewehren – nicht mehr wert als ein Luftgewehr, doch wenn sie die Pistole an ihrer Hüfte verbergen konnte, mochte sich eine Gelegenheit ergeben, sie später zu benutzen. Wie lange allerdings ihre Hüfte ein sicheres Versteck vor El Micos Leuten bleiben würde, war eine Überlegung, die sie nicht gern anstellte.
Es waren kaum zehn Sekunden vergangen, seit sie aus dem Bus geklettert war. Wieder hörte sie eine Stimme etwas rufen. Die Leute näherten sich. Das eine Pflasterende klebte fest an ihrer Hüfte, und sie griff nach der Automatic, die auf dem Trittbrett neben ihrem Fuß lag. Eine Hand schob sich vor und packte den Lauf. Blitzschnell drehte sie sich um. Jimson trat einen Schritt zurück und hielt die Automatic von sich gestreckt, als könnte sie ihn vergiften.
«Nein», sagte er und starrte ihr ins Gesicht, um nicht ihre entblößte Hüfte sehen zu müssen. «Nein, Miss Blaise!»
«Geben Sie mir die Automatic zurück, Sie Narr!», flüsterte sie wütend. «Es ist die einzige Chance, die wir haben.»
«Nein», wiederholte er eigensinnig und schüttelte den Kopf. Sein Arm holte aus. Die Automatic flog über das Dach des Busses und verschwand in einem zwanzig Schritt entfernten Gebüsch.
Blinde Wut überkam sie. Mit ungeheurer Anstrengung hielt sie sich zurück und versuchte klar zu denken, um sich der neuen Situation anzupassen. Aber ihre Hand zitterte, als sie das Pflaster von ihrem Bein riß und es wegwarf.
Eine zitternde Hand, die konnte sie jetzt gebrauchen. Sie ließ den Zorn nochmals aufwallen und preßte die Finger in die Augenwinkel. Tränen begannen über ihr Gesicht zu fließen. Es war nicht schwer, sie fließen zu lassen, sie mußte bloß an Jimsons Irrsinn denken.
Sie fuhr mit den Fingern durch ihr Haar, legte eine Hand in den Straßenstaub und verschmierte ihr Gesicht. Sie hörte das
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