Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
Ihres Standes zu schockieren, Mr. Jimson.»
«Ja, es machte ihm einen Heidenspaß.» Jimson preßte seine Handflächen aneinander, und seine Kiefermuskeln zuckten. «Aber selbst wenn dieses oder jenes übertrieben war, bin ich dennoch zutiefst erschüttert, daß eine Frau Dinge tun kann, die Sie getan haben.»
Das war der Beginn gewesen. Davon ausgehend hatte Jimson sein Thema weitergesponnen. Es zeigte sich bald, daß er mehr war als bloß ein Pazifist. Er war von der Überzeugung besessen, daß Gewalttätigkeit die Wurzel allen Übels ist. Er verabscheute jede Gewalttat, ob kriminell oder nicht, Krieg, Gangstertum, Überfalle und das «sündhafte, gladiatorenähnliche Schauspiel des Boxens», ja sogar häusliche Gewaltanwendung, wenn man sein Kind schlägt.
Das Motiv war irrelevant für ihn. Jeder Akt der Gewalt, ganz gleich aus welchem Motiv, bringe, so behauptete er, durch das Gesetz von Ursache und Wirkung weitere Gewalttaten hervor.
Mit halbem Ohr zuhörend, wünschte Modesty sich Willie herbei. Willie Garvin konnte Vers für Vers die Psalmen mit ihren vielen klingenden martialischen Phrasen zitieren, ein Wissen, das er sich vor langer Zeit im Kittchen von Kalkutta angeeignet hatte, wo ein Psalmenbuch seine einzige Lektüre gewesen war. Er hätte mit Reverend Leonard Jimson eine amüsante Debatte führen können.
Es bestand nur schwache Hoffnung, daß Jimson jemals der Atem ausgehen würde, stellte sie betrübt fest.
Seine Anklagen hatten jetzt eine persönliche Note erhalten, und es fehlte ihm nicht an Stoff.
«Sie haben getötet», sagte er leise und starrte mit verlorenem Blick durch den Mittelgang des kleinen Busses. Seine Schutzbefohlenen schwatzten munter auf spanisch und beachteten ihn nicht. Vielleicht konnten sie nur wenig Englisch, vielleicht war ihnen das Thema hinlänglich bekannt. «Sie haben getötet», wiederholte er und schüttelte wie benommen den Kopf. «Das ist eine Handlung jenseits meiner Vorstellungskraft, eine so monströse Handlung, daß sie den menschlichen Geist beleidigt.»
Ihre Langeweile schlug in Gereiztheit um. «Wann immer es vorkam», sagte sie, «beleidigte es nicht meinen Geist. Ich wählte nur die einzige Alternative zu meiner eigenen Tötung.»
Jimson blickte sie an. «Es wäre besser gewesen, Sie wären gestorben», sagte er mit ernster Aufrichtigkeit.
«Ich verstehe. Danke.»
«Ich spreche nicht persönlich. Besser,
ich
sterbe, als ich töte.»
«Besser für wen?»
«Für die Welt. Für die Menschheit. Die Menschheit ist viel großartiger als das Individuum, Miss Blaise. Der Tod kommt für jeden von uns zur rechten Zeit. Sie retteten Ihr Leben durch Gewaltanwendung –»
«Nein, nur indem ich auf Gewalt antwortete.»
«Es ist das
gleiche
! Das müssen Sie doch einsehen! Antwort auf Gewalt ist die Nahrung, durch die sich diese vermehrt. Hätten Sie sich ergeben, hätten Sie nicht reagiert, so wäre eine Wurzel der Gewalt ohne Nahrung abgestorben, eine Wurzel, aus der seither unzählige Gewalttaten entstanden sind – wie Schmarotzer aus einem widerwärtigen Unkraut.»
«Aber auch ich wäre gestorben. Und ich ziehe es vor, zu leben. Es mag sogar sein, daß ich durch meine Reaktion ein paar böse Wurzeln ausgerottet habe.»
Jimson schloß einen Moment die Augen, als schmerzte ihn etwas. «Sie leben nach falschen und gefährlichen Prinzipien, Miss Blaise», sagte er mit Nachdruck. «Für uns alle kommt der Tag der Vergeltung, und ich glaube, wenn dieser Tag kommt, werden Sie einen furchtbaren Preis für Ihre Prinzipien zahlen müssen.»
«Dann ist es besser, ich verschiebe ihn, solange ich kann.» Sie lächelte, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen, aber er blieb ernst.
«An diesem Tag wird es kein Lachen geben», sagte er.
Sie lehnte sich ein wenig vor und zupfte an dem durchgeknöpften Hemd, das sie über dem Rock trug, um ihrem Körper Kühlung zu verschaffen. Sie hatte nichts gegen Jimsons leidenschaftliche Überzeugung oder gegen seine Ansichten; sie wollte nicht mit ihm streiten, ebensowenig wie mit Leuten, die die Erde für flach hielten oder ein Wundermittel wußten, um die Welt zu kurieren. Nur von Jimsons Stimme hatte sie genug.
«Sie sprachen viel über das Böse, Mr. Jimson», sagte sie nachdenklich. «Ich frage mich, ob Sie es jemals kennengelernt haben. Aus nächster Nähe gesehen haben.»
«Was meinen Sie damit?»
Sie zögerte eine Sekunde und suchte nach neuen Worten für ihre abgedroschenen Gedanken. Dann ärgerte sie sich darüber.
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