Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
Wünsche zu entziffern.«
5
Von dem Fenster der kleinen Wohnung sah Sir Gerald Tarrant auf die letzten Sonnenstrahlen, die über den Dächern von Montmartre auf die weiße Kuppel von Sacré-Cœur fielen.
»Na«, sagte Modesty. Sie war vor zwei, drei Minuten aus der Küche gekommen und stand jetzt, bei ihm eingehängt, einen Kochlöffel in der Hand, die Küchenschürze umgebunden, neben ihm.
»Vielen Dank«, sagte Tarrant. »Natürlich ist es heute üblich, zusammenzuzucken, wenn man auf etwas so Banales wie einen Sonnenuntergang aufmerksam gemacht wird, aber ich mag Sonnenuntergänge gern. Der Gedanke, dass jeder von ihnen einzigartig ist, beeindruckt mich.« Er nahm einen Schluck Weißwein.
»Im Tschad erlebt man hin und wieder sehr spektakuläre Sonnenuntergänge«, sagte Dr. Pennyfeather.
»Etwas grell, beinahe wie regenbogenfarbene Eiscreme, aber beeindruckend.«
Willie rief aus der Küche: »Oscar Wilde behauptet, Sonnenuntergänge seien altmodisch und sie zu bewundern sei ein Zeichen von Provinzialismus.«
»Dummer Kerl«, bemerkte Pennyfeather.
»Du hast bestimmt teilweise Recht, Giles«, sagte Modesty. »Ich weiß nicht, ob Oscar dumm war, aber mir ist er zu selbstgefällig. Willie? Woher weißt du die klugen Sachen, die Oscar Wilde gesagt hat?«
»Ach, von Veronica. Erinnerst du dich an das Mädchen, das ich letztes Jahr zum Rennen in Newmarket mitgenommen habe? Sie war in Cambridge und hat eine Arbeit über Oscar Wilde geschrieben. Ich musste oft abendelang zuhören, was sie über ihn zu sagen hatte –« Seine Stimme veränderte sich und wurde ganz aufgeregt. »Prinzessin! Rasch, sie
bewegt
sich!«
»Er passt nur auf die Suppe auf«, sagte Modesty und ging in die Küche zurück.
Pennyfeather grinste. »Willie ist komisch, wissen Sie. Modesty behauptet, als Robinson Crusoe sei er fabelhaft. Man setzt ihn irgendwo aus, und sofort zaubert er ein gutes Mahl herbei. Aber in einer Küche ist er hoffnungslos. Übrigens«, fügte Pennyfeather ehrlicherweise hinzu, »bin ich selbst auch nicht sehr gut.«
Tarrant ließ sich in einen Armstuhl fallen und sah sich um. Er wusste, dass Modesty und Willie in den verschiedensten Weltteilen
pieds à terre
hatten. Diese Wohnung auf der Höhe von Montmartre nahe der Place du Tertre war einfach, aber erstaunlich gemütlich. Was immer Modesty diesmal nach Paris geführt hatte, Tarrant war dafür dankbar, denn in ihrer Gesellschaft zu sein, war für ihn stets eine Freude.
Man hatte ihn vor kurzem überredet, noch nicht in Pension zu gehen, und er war heute Morgen nach Paris gekommen, um mit seinem Gegenstück beim französischen Sicherheitsdienst zusammenzutreffen, mit René Vaubois, dem Leiter der Direction de la surveillance du territoire. Vaubois begrüßte ihn mit der Nachricht, dass Modesty Blaise vor einer Stunde angerufen und ihn zu einem Abendessen in ihrer Wohnung eingeladen hatte.
Als er ihr sagte, dass er Tarrant erwarte, hatte sie die Einladung sofort auf ihn ausgedehnt. Tarrant ließ es sich angelegen sein, sein Hotel rechtzeitig zu verlassen, um wenigstens zwanzig Minuten vor René Vaubois bei Modesty einzutreffen. Eine Art von Besitzinstinkt, wie er sich selbst eingestand.
Er blickte zu Pennyfeather, der gedankenverloren mit einer geschwärzten Silbermünze spielte. Sie kannten einander aus England, und wenn Tarrant es erstaunlich fand, dass Modesty einen so linkischen, weltfremden Arzt zum Gefährten wählte, so ließ er es sich nicht anmerken. Es war klar, dass nicht nur Modesty, sondern auch Willie große Stücke auf ihren seltsamen Freund hielten, und das genügte Tarrant.
Sichtlich erleichtert kam Willie aus der Küche.
»Apropos unerschrocken«, sagte er. »Da steht die Prinzessin allein in der Küche, und rundherum brodelt und siedet es in Pfannen und Töpfen, und Gott allein weiß, was sich im Backrohr abspielt, aber sie gerät nicht in Panik.« Er schenkte sich ein Glas Wein ein. »Los, Giles, zeig ihn Sir Gerald.«
»Du meinst den Talisman? Ja, natürlich.«
Tarrant nahm die Münze. Sie war aus Silber, etwas kleiner als ein Zwei-Penny-Stück, aber schwerer. Auf einer Seite zeigte sie die Büste Napoleons und die Worte
Napoléon Empereur
. Auf der anderen Seite trug sie die Inschrift
République Française
und die Bezeichnung
1 franc
in einem Lorbeerkranz. Das Datum war mit
An. 12
angegeben. Nach kurzem Nachdenken wurde Tarrant bewusst, dass damit Année 12, das zwölfte Jahr der Regierung Napoleons, gemeint sein musste.
»Ist das der
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