Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
Sie sind ein umsichtiger Mann, M’sieu.«
Sie beugte sich vor und nahm den Bogen mit den Worten des verstorbenen Mannes auf. »Jetzt verstehe ich, was
le talisman
heißt. Hat etwas anderes, was Ihr Bruder mir sagte, für Sie eine Bedeutung?«
Martel schüttelte den Kopf. »Leider nicht, Mam’selle.«
»Offenbar wollte er, dass Sie ihm einen wichtigen Dienst tun. Sind Sie ganz sicher, dass nichts darauf hinweist, was er gemeint hat?« Sie gab ihm den Bogen.
Ohne äußerliche Anzeichen der Ungeduld las er nochmals die Worte. Sie beobachtete ihn scharf, um auch das kürzeste Aufflackern des Verständnisses zu bemerken, doch sein Gesicht blieb leer.
Endlich sagte er bedächtig: »Es ist nichts zu finden. Der Bruder meiner Mutter hieß Alâeddin, aber wir sahen ihn zum letzten Mal vor dreißig Jahren. Er lebte in den Bergen hinter den Gorges du Todra. Vermutlich ist er heute tot. Er war wesentlich älter als meine Mutter.«
»Alâeddin?« Erregung überkam sie. Dann verschwamm ihr alles vor den Augen, und die Erregung wurde von plötzlichem Schrecken, schwarz und namenlos, vertrieben. So furchtbar war dieser aus dem Nichts kommende Schrecken, dass ihr Körper von kaltem Schweiß bedeckt war. Sie verhielt sich ganz still, atmete tief ein, atmete nochmals ein, und ihr Blick wurde wieder klar. Martel starrte immer noch auf den Bogen Papier. Er hatte ihren plötzlichen kurzen Anfall nicht bemerkt.
Jetzt war es vorüber, und verstört fragte sie sich, warum sie eine ihr so fremde Reaktion verspürt hatte – so heftig und scheinbar so grundlos. Doch kaum tauchte die Frage auf, fühlte sie auch schon, wie etwas in ihr vor der Erforschung dieser Ursache zurückschrak. Als Martel den Kopf hob, hatte sie sich nicht bewegt, sondern sah ihn noch immer mit höflichem Interesse an.
»Mehr finde ich nicht in diesen Worten«, sagte er.
»Aber ich möchte Sie etwas fragen. Wissen Sie, dass Bernard ein Mädchen heiratete, das während der Flitterwochen entführt wurde?«
Modesty nickte. Martel legte den Bogen Papier beiseite. »Dann will ich Ihnen etwas sagen, das zwar nicht hier steht, aber von Interesse sein kann. Was immer Bernard wollte, hat bestimmt mit seiner Frau zu tun.
Davon bin ich überzeugt. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er ein romantischer Narr war, und es stimmt. Er hatte dieses Mädchens wegen den Kopf verloren. Mein Vater erzählte es mir, als ich ihn letztes Jahr in Bonifacio besuchte. Er sagte, Bernard sei völlig besessen von diesem englischen Mädchen und weigere sich zu glauben, dass sie tot sei. Daher glaube ich, dass, was immer er von mir gewollt hat, etwas mit seiner Frau zu tun haben muss, aber ich habe keine Ahnung, was es ist.«
Er stand auf und zog automatisch sein Jackett zu, um sein Schulterhalfter nicht sehen zu lassen. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Mam’selle.«
Sie war gleichzeitig mit ihm aufgestanden. »Vielen Dank, dass Sie mich besucht haben, M’sieu. Würden Sie bitte so bald als möglich M’sieu Casanova anrufen und ihm mitteilen, dass unsere Unterredung beendet ist? Ich nehme an, dass damit auch Willie Garvins Besuch bei ihm beendet ist.«
»Natürlich.«
Keiner bot dem anderen die Hand. Sie begleitete ihn zur Tür, dann ging sie in ihr Schlafzimmer, setzte sich vor den Toilettentisch und dachte an den Augenblick des seltsamen, namenlosen Schreckens. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. »Was zum Teufel ist in dich gefahren?«, fragte sie leise ihr Spiegelbild.
Georges Martel ging durch den Korridor zu den Fahrstühlen. Einer der vier hatte ein »Außer Betrieb« Schild, aber als er sich näherte, entfernte ein Arbeiter eben die Tafel, nahm seine Werkzeugkiste und fragte mit einem Blick auf Martel: »
Vous descendez, M’sieu?
« Martel nickte und betrat vor dem Mann den Fahrstuhl. Schweigend fuhren sie nach unten. Als der Fahrstuhl stehen blieb und die Tür sich öffnete, sah Martel, dass sie nicht im Erdgeschoss, sondern im Keller waren.
Der Arbeiter hatte seinen Finger auf dem Knopf, der die Tür offen hielt, und machte keine Anstalten auszusteigen. Martel wollte eben verärgert protestieren, als die Worte in seinem Hals erstarben. In der geöffneten Tür standen zwei Männer, schwarze Strümpfe über dem Gesicht, und einer von ihnen hielt einen komischen Revolver mit einem langen Lauf in der Hand, der ein schwaches Geräusch machte, als er feuerte.
Martel verspürte einen stechenden Schmerz im Hals, ließ sich aber nicht von der bereits begonnenen Bewegung
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