Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
hätte man ihn keinen Killer spielen lassen, denn er sah nicht so aus – außer vielleicht in einer Nahaufnahme der Augen. Sie waren völlig leer und eiskalt. Modesty trug eine dunkle Hose und ein Seidenhemd mit Krawatte. Sie saß an einem Ende des langen Sofas und wandte sich Martel zu, der am anderen Ende saß. Vor ihnen stand ein niedriger Tisch mit zwei Gläsern Weißwein. Als sie Martel fragte, was er haben wolle, hatte er höflich geantwortet, dass ihm alles recht sei, was Mam’selle Blaise trinke. Er wartete, bis sie getrunken hatte, bevor er sein Glas berührte, zeigte jedoch keinerlei Nervosität. Seine Vorsicht kam automatisch.
Jetzt drehte er, ohne zu lächeln, die napoleonische Münze zwischen den Fingern. In seinen leeren Augen lag höhnische Verachtung. »Ich weiß, dass er gestorben ist«, sagte er mit rauer Stimme, »ich hörte es vor zwei Tagen. Die Botschaft in Marokko informierte Paris, und Paris informierte meinen Vater, der es mir mitteilte.«
»Mein Beileid«, sagte Modesty höflich.
Martel deutete ein Achselzucken an. »Ich habe Bernard seit Jahren nicht gesehen und ihn nie besonders gemocht.« Er legte die Münze auf den Tisch.
»Hat sie irgendeine Bedeutung für Sie, M’sieu?«, fragte sie.
»Die Münze? Ja.«
Sie wartete, aber er sagte nichts mehr. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Ihr Bruder gab mir die Münze und nannte sie einen Talisman. Er hatte hohes Fieber und war verwirrt, aber ohne Zweifel wollte er, dass Sie etwas Bestimmtes für ihn tun. Er wollte, dass ich Ihnen den Talisman übergebe und Sie bitte, irgendeine Aufgabe auszuführen oder vielleicht ein Versprechen. Durch das Fieber war er verwirrt, aber ich habe Ihnen eine Abschrift dessen gezeigt, was er gesagt hat. Erschwert es Ihr Verständnis, dass er Englisch gesprochen hat?«
Martel schüttelte den Kopf. »Nein, unser Vater hat uns Englisch beigebracht. Er hat zu jenen gehört, die man von Dünkirchen nach England gebracht hat. Er wurde Koch auf einem englischen Schiff.«
»Dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, was die Münze und die Worte bedeuten, M’sieu.«
Martel sah sie, den Kopf zur Seite geneigt, ausdruckslos an. »Ich kann Ihnen nur wenig sagen, Mam’selle, und ich verstehe nicht, warum Sie fragen. Sie haben mir die Münze und die Botschaft gebracht, was sonst wollen Sie tun?«
Sie nahm einen Schluck Wein und stellte ihr Glas nieder. »Ich möchte, dass der letzte Wunsch Ihres Bruders erfüllt wird«, sagte sie langsam. »Nennen Sie es, wenn Sie es wollen, eine Laune. Vielleicht können Sie entziffern, was er gesagt hat, und sind bereit, das zu tun, was er gewollt hat, wenn dem so ist, gibt es nichts mehr zu sagen. Aber wenn Sie nicht bereit sind, dann versuche ich vielleicht, mich selbst um die Angelegenheit zu kümmern.« Eine kleine Pause verstrich, bevor sie hinzufügte: »Ich bin überzeugt, M’sieu Casanova möchte, dass Sie mir behilflich sind, sonst hätte er Sie nicht angewiesen, mich zu besuchen.«
Der Blick, mit dem er sie ansah, war ebenso verächtlich wie der, mit dem er die Münze betrachtet hatte. »Bernard war immer schon ein romantischer Narr«, sagte er ohne besonderen Nachdruck. »Als Jungen fanden wir zwei solche Münzen. Bernard hatte die Idee, dass wir einen Schwur ablegen sollten, für den diese Münzen das Pfand waren, sozusagen der Talisman. Es war ein Schwur, der jeden von uns berechtigt, einmal im Leben den Talisman zu benutzen und den andern um einen Dienst zu bitten. Irgendeinen Dienst. Und diese Verpflichtung durfte nie abgelehnt werden.« Er sah die Münze an. »Es wundert mich nicht, dass Bernard diese Albernheit noch als erwachsener Mann ernst nahm. Innerlich ist er nie erwachsen geworden. Er liebte Geheimnisse und Geheimagenten und Romantik. Also hat er die Münze behalten, und für ihn hatte sie eine magische Bedeutung, denn mit ihrer Hilfe konnte er eines Tages einen großen Dienst von mir verlangen.« Martel schüttelte den Kopf und verzog den Mund zu etwas, das vielleicht ein Lächeln hätte sein sollen. »Es ist ganz gut, dass er die Antwort nicht erlebt hat, die ich ihm gegeben hätte.« Er griff nach seinem Weinglas, und Modesty fragte:
»Was haben Sie mit Ihrer Münze getan?«
Ein wenig erstaunt zog er die Brauen hoch. »Natürlich besitze ich sie noch. Es wäre immerhin möglich, dass ich einmal dringend etwas brauche, das ich weder anordnen noch kaufen kann. In diesem Fall hätte ich Bernard an seinen Schwur erinnert.«
»Ich sehe,
Weitere Kostenlose Bücher