Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
betrachtete den Ausleger des Krans, das Kabel mit dem Haken und das gelbliche Wasser, das den Betonklotz verbarg. Leise und inbrünstig sagte er: »Heiliger Bimbam, Prinzessin … ich bin froh, dass ausgerechnet du gekommen bist.«
Lussac legte den Hörer nieder und wandte sich Casanova zu. »Das war das Tor«, sagte er düster. »Ringo und die anderen sind zurück.« Der zweite Leibwächter, Jaffe, sah aus dem Fenster auf den grauen Wagen, der die lange Einfahrt heraufkam. Auf dem Beifahrersitz neben Ringo in Chauffeursuniform konnte er Kopf und Schultern von Modesty Blaise erkennen. Mit einem unsicheren Blick auf Casanova sagte er: »Das ist eine fatale Angelegenheit.«
Casanova sah ihn eisig an. »Höchst fatal. Zu Modesty Blaise sagt man nicht: ›Es tut mir Leid, Mam’selle, wir haben einen kleinen Irrtum begangen und Willie Garvin getötet.‹« Er zuckte die Schultern und wandte sich ab. »Jetzt muss sie auch verschwinden. Es ist bedauerlich, aber wenn wir sie am Leben lassen, wird sie alles daransetzen, uns umzubringen.«
Stille trat ein. Casanova stand an der offenen Tür zum Patio, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und sah aufs Meer. Lussac stand immer noch neben dem Telefon, und Jaffe lehnte am anderen Ende des Zimmers am Kamin. Alle drei lauschten. Zehn Sekunden später öffnete sich eine Tür, und Modesty Blaise wurde, die Hände auf dem Rücken, unsanft ins Zimmer geschoben. Ihr Haar war wirr, ihre Kleidung verschmutzt und feucht.
Als Casanova sich umdrehte, überblickte sie rasch das Zimmer und sagte: »Neun Uhr.« Gleichzeitig zog sie den .38 Defender hinter dem Rücken hervor und drehte sich ein wenig nach rechts, um Casanova und Jaffe im Schussfeld zu haben. Im gleichen Atemzug sagte sie auf Französisch: »Lasst euch nicht einfallen, auch nur eine Bewegung zu machen.«
Willie Garvin, ebenso durchnässt und schmutzbedeckt, folgte ihr auf dem Fuß. Lussac, zu ihrer Linken, nicht vom Revolver gedeckt, griff nach der Waffe in seiner Achselhöhle. Als Willie das Zimmer betrat, blickte er in die Richtung der Neun-Uhr-Zeigerstellung, und sein Springmesser traf Lussac tief in den Bizeps. Lussac stieß einen Schrei aus und fiel auf die Knie. Sein Gesicht wurde in einem Augenblick kreidebleich.
»Der Nächste stirbt«, sagte Modesty. »Ihr tut gut daran, mir zu glauben.«
Willie Garvin schloss die Tür hinter sich, stellte einen Stuhl unter die Klinke, ging zu Lussac, nahm dessen Pistole aus dem Halfter und legte, während er rasch das Messer herauszog, die Hand auf sein Gesicht. Dann begab er sich an einen Platz, von dem aus er den Patio beobachten konnte.
Casanova musste, bis er es zum Führer der Union Corse gebracht hatte, so manche harte Nervenprobe bestehen. Während dieser Jahre hatte er drei verschiedene Bandenkriege ausgefochten und kaum jemals Angst gehabt. Aber jetzt empfand er Angst. Weniger, weil ein Revolver auf ihn gerichtet war, als wegen etwas schwer zu Fassendem. Dieses dunkelhaarige Mädchen hatte etwas so Bedrohliches an sich, strahlte etwas aus, das ihn wie ein körperlicher Schlag traf; es lähmte sein Selbstvertrauen und seinen Willen. Und das Gleiche ging ebenso deutlich spürbar von Willie Garvin aus. Etwas Großes, Kaltes, Furchtbares.
Sie sagte: »Nun, Casanova?«
Er holte seine letzten Reserven an Mut hervor, hielt ihrem Blick stand und sagte mit trockenen Lippen:
»Darf ich Ihnen, bevor Sie schießen, etwas zeigen, Mam’selle, das erklärt, was geschehen ist?«
Sie sah ihn einen Moment lang prüfend an, dann nickte sie kurz. Mit ausgebreiteten Händen bewegte er sich langsam zur Seite und sagte: »Wenn Willie Jaffe entwaffnen und ihm helfen würde, etwas hereinzubringen, das sich im Augenblick im Patio befindet?«
Willie ging zu Jaffe, nahm seine Pistole und warf sie auf einen Lehnstuhl, wo bereits Lussacs Schießeisen lag; dann wies er mit dem Daumen auf die Tür zum Patio.
Als sie hinausgingen, sagte Modesty zu Casanova:
»Wenn er faule Tricks versucht, ist er ein toter Mann. Willie ist schlecht gelaunt. Und ich ebenfalls.«
Casanova hob bedauernd die Schultern, sagte aber nichts. Zwanzig Sekunden später erschien Jaffe und trug das eine Ende einer Bahre, das andere trug Willie. Über die Gestalt auf der Bahre hatte man eine Decke gebreitet.
Sie stellten die Bahre nieder. Willie winkte Jaffe beiseite, bückte sich und zog die Decke weg. Als er sich aufrichtete, flüsterte er: »O mein Gott …« Modesty machte einen Schritt vorwärts. Schock und
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