Modesty Blaise 12: Die Lady läßt es blitzen
die Akte, wo er eine Seite umblätterte. »Es wird vermutlich außerordentlich interessant werden, glaube ich.«
»Angenommen …« Mrs. Ram zögerte und fuhr dann fort. »Es ist natürlich unwahrscheinlich, aber angenommen, die beiden Lieben, Sibyl und Kazim, werden durch irgendein Mißgeschick besiegt. Aus dem sterblichen Dasein getilgt. Das könnte Erfolg des Hallelujah-Szenariums schwer beeinträchtigen.«
Dr. Pilgrim schaute auf. Die weißen Haare wehten, die Lippen lächelten, die wäßrigen Augen waren klar.
»Da geben Sie meine eigenen Gedanken wieder, Mrs. Ram«, sagte er. »Wir müssen immer mit der entferntesten Möglichkeit rechnen, und es wäre ganz sicher ein großer Verlust für unsere Gemeinde, wenn wir der – äh – wertvollen Sachkenntnis Sibyls und Kazims beraubt würden. Aber …« Er legte die Hände auf die Akte und schloß mit einer Miene intensiven Nachdenkens halb die Augen, »aber so seltsam es scheint, haben wir nun zwei Personen mit einem bemerkenswerten Ruf in unserer Mitte, die, wenn sie nur überredet werden könnten, unsere Bestrebungen zu unterstützen, sich wohl als nicht weniger effizient als Sibyl und Kazim erweisen würden. Ich glaube, wir waren uns einig – oder etwa nicht? –, daß Sibyl und Kazim in letzter Zeit ein wenig größenwahnsinnig geworden sind.«
Mrs. Ram blinzelte. »Bei allem Respekt, ich kann mich schwer Ihrer Meinung anschließen, daß Miss Blaise und Mr. Garvin angemessenen Ersatz abgeben würden. Sie teilen in keiner Weise unsere … unsere Überzeugung.«
»Das stimmt, liebe Dame.« Ein Anflug von Vorwurf schwang in der geduldigen Stimme mit. »Aber ist es nicht unsere Pflicht, Bekehrte für unseren Weg zu gewinnen? Nicht durch solche Experimente, wie Dr. Tyl sie bevorzugt, vielleicht, aber langsam, Schritt für Schritt, indem wir sie gleichsam
hineinziehen
. Sie werden mich natürlich fragen,
wie
wir hoffen können, bei so widerspenstigen Leuten wie Miss Blaise und Mr. Garvin den ersten Schritt zu erreichen? Nun … die Antwort lautet, daß wir
Vertrauen
haben müssen, Mrs. Ram, und ich habe völliges Vertrauen in jene unsichtbare Macht, die alle anderen Mächte übertrifft, jene Macht, vor der wir alle das Knie beugen müssen. Stimmen Sie da nicht mit mir überein?«
Er sah sie erwartungsvoll mit halboffenem Mund an, und sie antwortete nach einigen Augenblicken des Unbehagens, weil sie nicht wußte, was er meinte: »Natürlich, Doktor, natürlich.«
»Ach, prächtig«, erwiderte er abwesend. »Wir werden also diese große Macht anwenden, an die wir beide glauben. Die Macht des
Druckmittels
. Und hier in diesem Dossier – das bewundernswert detailliert und jeden Penny wert ist, den wir dafür an Salamander Vier gezahlt haben –, hier sind, wie ich sagen möchte, Druckmittel und Ansatzpunkt enthalten, die gewährleisten, daß unsere Gäste bei allem mitmachen, was wir von ihnen verlangen. Das heißt, natürlich unter der Annahme, daß die unwahrscheinliche Möglichkeit, von der wir gesprochen haben, tatsächlich eintritt, daß unsere guten Freunde Sibyl und Kazim kaltgestellt werden und ersetzt werden müssen.«
Mrs. Rams dunkle Augen glänzten vor Bewunderung. »Das ist herrliches Alternativszenarium. Doktor. So fesselnd, daß es schwerfällt, nicht zu wünschen –«
Sie hielt inne und schüttelte selbstkritisch den Kopf.
»Bitte entschuldigen Sie, es war nicht meine Absicht, von praktischen Dingen abzuschweifen. Ich bin entzückt, daß Studium des Dossiers Ihnen einen Ansatzpunkt gezeigt hat, mit dessen Hilfe Sie intensives Druckmittel für Miss Blaise und Mr. Garvin haben, und ich wünsche mir sehr, über spezifische Art besagten Ansatzpunktes informiert zu werden.«
»Nun, in diesem Fall muß ich es Dr. Tyl hoch anrechnen, in welchem Maße seine analytischen Notizen im Dossier den – äh – den besonderen
schwachen Punkt
Miss Blaises und Mr. Garvins geklärt und identifiziert haben, der sie so leicht verwundbar macht.«
Thaddeus Pilgrim legte die Akte auf seinen Schreibtisch und schaute Mrs. Ram an. Sein Körper begann zu beben, der Heiligenschein aus feinen weißen Haaren um seinen Kopf zitterte, und nach einigen Augenblicken brach ein seltsames Geräusch aus seinen geöffneten Lippen. Es war das Geräusch von Thaddeus Pilgrims Lachen, und Mrs. Ram hatte es bis jetzt nur einmal gehört, vor vielen Jahren in Persien, nachdem er während einer Schwarzen Messe in einem Tempel in Ahriman ein Kind getötet hatte. Das
Weitere Kostenlose Bücher