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Möhrchenprinz - Roman

Möhrchenprinz - Roman

Titel: Möhrchenprinz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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sieben und ich wollte gerade Feierabend machen.
    Im Türrahmen lehnte ein Mensch, so viel konnte selbst ich erkennen. Viel mehr aber auch nicht.
    »Ich bin Tin-Tin«, sagte sie. »Eigentlich Martina, aber so nennt mich nur mein Opa.«
    »Leonie«, entgegnete ich. Zu mehr war ich einfach nicht in der Lage.
    »Er hat gesagt, dass ich mal Hallo sagen könnte. Ist das okay für dich?«
    »Klar.«
    Ich war überfordert. Das Mädchen war vielleicht zehn, obwohl sich das wirklich kaum schätzen ließ. Es hatte porzellanweiße Haut, mandelförmige Augen, blauschwarzes Haar und einen klapperdürren Körper. Die Augen waren schwarz umrandet, die Haare standen in Stacheln vom Kopf ab und an den schwarzen, löchrigen Klamotten baumelte kiloweise Metall. Ich fragte mich, ob sie den Metalldetektor, der jedes eingehende Stück Wildfleisch untersuchte, unbehelligt passieren könnte – oder ob das Ding wegen Überlastung in spontane Selbstentzündung übergehen würde.
    »Du bist neu hier«, sagte sie.
    »Seit Anfang des Monats. Ich habe aber schon mal ein Praktikum gemacht.«
    »Ich weiß.«
    Sie stand immer noch in der Tür und starrte mich eindringlich an.
    »Wer ist denn dein Opa?«
    »Wie geht es deinen Füßen?«
    Ich grinste. »Josef.«
    Mit dem Grinsen, das sie erwiderte, ging die Sonne auf. Erst im direkten Vergleich fiel mir auf, wie ernst ihr Blick bisher gewesen war.
    »Isst du auch Tiere?«, fragte Tin-Tin.
    »Manchmal.« Das war die Wahrheit. Ich lebte nicht konsequent vegetarisch, aß aber auch nicht viel Fleisch.
    »Ich hatte mal ein Meerschweinchen«, sagte sie.
    »Hamster«, hielt ich dagegen.
    »Hast du den auch gegessen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Gut.« Sie drehte sich um und verließ mein Büro.
    Als ich an der Pförtnerloge vorbei nach Hause ging, saß sie in ein Buch vertieft hinter Josefs Stuhl auf einem Hocker und blickte nicht auf.
    Der Vorteil bei einer Fleischgroßhandlung war, dass man es nur mit keimfrei abgepackten Delikatessen zu tun hatte und keine toten Tiere zu Gesicht bekam. Trotzdem verlangte Siebendt senior von jedem Mitarbeiter einen Besuch im Schlachthof. Mir wurde die Ehre zuteil, von PS, wie der Juniorchef intern genannt wurde, höchstpersönlich zu diesem Ausflug eingeladen zu werden.
    »Der Schlachthof steht auf jeden Fall während der Probezeit auf dem Plan, am liebsten ist es meinem Vater, wenn wir den Punkt innerhalb des ersten Monats abhaken. Dann können die Mitarbeiter, die ein Problem damit haben, sich frühzeitig überlegen, ob sie das Unternehmen doch lieber wieder verlassen.«
    Ich schluckte.
    PS grinste. »Machen Sie sich mal keine Sorgen, so schlimm wird es nicht.«
    Zum Glück hatte er mich dieses Mal am Vortag informiert, sodass ich mit langen Hosen und festen Schuhen angemessen gekleidet war. Wir fuhren in seinem Auto nach Norden, dorthin, wo das Land flacher und der Rhein breiter wurde. Schlachthöfe standen schon lange nicht mehr in Innenstädten, nicht einmal mehr in Randbezirken. Die Massen an Tieren, die täglich lebend hin und tot wieder weggeschafft wurden, waren umliegenden Anwohnern nicht mehr zuzumuten. Ehemalige Schlachthöfe wurden zudenkmalgeschützten Gewerbegebieten aufgehübscht oder als Theater genutzt, neue Schlachthöfe entstanden auf der grünen Wiese.
    Diesen Termin hatte ich gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser und daher nicht gut geschlafen. Natürlich war mir, als ich die Stelle bei Siebendt annahm, klar gewesen, dass die Firma mit Fleisch handelte. Und wer Fleisch essen will, muss vorher ein Tier schlachten, auch das war mir klar. Aus genau diesem Grund aß ich ja so wenig Fleisch. Meine Mutter hatte mich schon in frühester Jugend immer wieder ermahnt, mehr Fleisch zu essen, das sei für ein gesundes Wachstum nötig, aber ich musste immer an die Tiere denken, die ich lebend doch so viel lieber mochte. Nur ab und zu kaufte ich Biofleisch, von dem ich wusste, dass die Tiere vor ihrem frühzeitigen Tod zumindest einigermaßen artgerecht gehalten wurden.
    Vor PS allerdings wollte ich nicht wie eine Heulsuse dastehen, deshalb hatte ich mich gewappnet. Ja, ich würde tote Tiere sehen, aber ich würde kein Mitleid empfinden. Nur die technischen Fragen würden mich interessieren. Wie viele Tiere wie schnell getötet werden konnten, wie schnell die zerlegten Teile vakuumiert und steril verpackt in unserem Kühlhaus landeten. Geschäftliche Details zu dem Produkt, das wir verkauften. Dieses Mantra sagte ich mir vor, seit ich heute Morgen um halb

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