Möhrchenprinz - Roman
Vorstellung so absurd, dass ich es noch gar nicht glauben konnte und sich daher auch noch keine emotionale Reaktion eingestellt hatte. Zumal ich mit meinen eigenen Problemen jede Menge zu tun hatte.
»Was sagst du dazu?«, fragte Mama allerdings plötzlich an mich gewandt.
Hoppla, jetzt bloß nichts Falsches sagen, dann kamen sicher wieder die Tränen.
»Ich bin völlig überfahren. Seit wann wisst ihr es denn?«
»Ich weiß es seit letztem Montag«, sagte Daniel. »Da hattest du es eigentlich auch erfahren sollen, aber du musstest ja mit deinem Chef Fleisch essen gehen statt deinem Vater bei seinem Coming-out zuzuhören.«
Ich schnaubte unwillig. »Woher hätte ich wissen sollen, dass er dieses Geheimnis mit uns teilen wollte? Zu dem Zeitpunkt seines Besuchs war es nämlich noch genau das – ein Geheimnis.«
»War es nicht«, mischte meine Mutter sich ein. In ihrer Stimme schwang schlecht unterdrückter Zorn mit. »Rita Lewejohann wusste es schon seit Wochen und hat es jedem erzählt, der es hören wollte.«
»Und denen, die es nicht hören wollten, vermutlich auch«, ergänzte Daniel.
Aha, meine Lieblingsfeindin Rita mit dem zerschossenen Teeservice hatte sich auch in dieser Angelegenheit hervorgetan. Das wunderte mich nicht.
»Jedenfalls war ich die Letzte, die es erfahren hat.«
»Nein, das war Leo«, betonte Daniel.
»Danke für die Richtigstellung«, flötete ich.
»Immerhin hast du es aus der Familie erfahren. Mama hat es von Rita.«
Das war wirklich grausam.
»Hast du mit Papa seitdem gesprochen?«, fragte ich meine Mutter.
»Nein. Und ich will auch nicht mit ihm sprechen.«
Das war typisch. Mama ging den unangenehmen Dingen des Lebens gern aus dem Weg. Deshalb wohnte sie jetzt nicht zu Hause, wo die Nachbarn sich das Maul zerrissen, und aus diesem Grund gab sie auch meinem Vater keine weitere Gelegenheit zur Aussprache.
Ich seufzte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis mein Vater herausfand, wo Mama abgeblieben war und selbst hier vor der Tür stand. Ich jedenfalls würde ihn nicht belügenoder abwimmeln. Das mussten die beiden unter sich ausmachen.
Ich ging bald schlafen, denn ich war ja auch die Einzige, die am nächsten Morgen wieder früh rausmusste. Als ich das laut aussprach, reagierte Daniel wie erwartet mit einem Blick, der mich hätte töten sollen, aber da er ja neuerdings lebende Kreaturen verschonte, war die Feuerkraft seines Blickes erloschen. Ich ging unverletzt zu Bett.
Der nächste Arbeitstag verging ohne allzu große Aufregungen, aber bei der Heimkehr erwartete mich eine unerfreuliche Überraschung. In der Küche war der Inhalt praktisch aller Schränke auf der Arbeitsfläche, dem Küchentisch, ja sogar auf dem Fußboden ausgebreitet. Inmitten des Chaos stand ein riesiger Umzugskarton, in dem bei meinem Eintreffen gerade die Rührschüssel verschwand.
»Was passiert mit meiner Rührschüssel?«, fragte ich alarmiert.
Daniel und Thomas, die das Chaos veranstaltet hatten, drehten sich zu mir um.
»Hi, Leo«, sagte Thomas.
»Wir verbannen alle Erdölprodukte aus der Wohnung«, erklärte Daniel.
Erdölprodukte? Natürlich wusste ich, dass Kunststoff aus Erdöl gemacht wurde, aber wenn das bedeutete, dass Daniel keinen Kunststoff mehr duldete, war meine Küche gleich leer.
»Aber …«
»Wir haben schon Ersatz besorgt«, erklärte Thomas mit einem breiten Grinsen. Er zeigte auf einen Stapel Geschirr, das wie die Sammlung für einen Polterabend aussah. Glasierte Ton- und Porzellanschüsseln in allen möglichen Größen und Dekorationen erinnerten an die Auslage eines Garagentrödels.Küchen- und Brotmesser mit Holzgriff, einige große Holzlöffel, ein Schneebesen, ein rostiger Sparschäler mit einer Vergangenheit, deren Beginn in den dunklen Jahren vor dem zweiten Weltkrieg liegen mochte, ein verbeulter Messbecher aus Metall und eine Wärmflasche aus Kupfer rundeten das Bild des Grauens ab. Das Sahnehäubchen aber waren gehäkelte Topflappen in Weiß und Blau.
»Was soll ich damit?«, fragte ich.
»Schon mal etwas von Peak Oil gehört?«, fragte mein Bruder.
»Ich hatte die Bedeutung dieses Begriffs kapiert, bevor du auch nur wusstest, wie man das schreibt.«
»Wir sollten also so schnell wie möglich weg vom Öl.«
»Schön. Also keine neuen Plastikprodukte mehr. Aber wieso willst du mir die alten Sachen wegnehmen?«
Ich schnappte nach meinem Teigschaber, den Thomas in den Karton legen wollte, und zog am Stiel, während er am Schaber zog. Er machte ein
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