Möhrchenprinz - Roman
der Bitte, dass diese Wahrheit für immer und ewig verborgen bliebe.
Ich verschickte die Pressemitteilungen um halb zwei, für die meisten Empfänger gerade rechtzeitig vor der Redaktionskonferenz am Nachmittag. Schon wenige Minuten später begann mein Telefon zu klingeln und ich wiederholte ständig dieselben Beteuerungen. Ja, es habe sich um einen dummen Scherz gehandelt und Siebendt sei zufällig zur Zielscheibe geworden, es hätte auch jeden anderen Stand treffen können. Nein, es sei keine Demonstration für oder gegen irgendetwas gewesen, das mit der Firma Siebendt oder ihren Premium-Produkten zu tun hätte. Ja, wir hätten mit dem Anführer der Gruppe persönlich gesprochen und sein Name sei uns bekannt. Nein, wir würden den Namen des Mannes nicht veröffentlichen und ihn nicht anzeigen. Ja, er würde den entstandenen Schaden ersetzen, aber damit sei die Sache dann auch ein für alle Mal erledigt. Man wolle dem jungen Mann seine Zukunft nicht verbauen und glaube ihm, dass er aus der Erfahrung gelernt habe. Ja, das sei ungewöhnlich, aber das Unternehmen sei ein Familienunternehmen und habe daher eine Kultur der Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern und der Gesellschaft. Es sei niemandem damit geholfen, wenn man die Sache aufbausche und daher habe man beschlossen, dem übermütigen Tunichtgut mit einer gehörigen Portion Nachsicht zu begegnen.
Ich gab diese Antworten den Tageszeitungen, den Wochenzeitungen, den Anzeigenblättern und mehreren Radiosendern. Immer freundlich, immer jovial, immer im Brustton der Überzeugung. Einige Journalisten schienen mir die Geschichte nicht wirklich abnehmen zu wollen, aber ich blieb bei der vereinbarten Darstellung.
Um sechs Uhr war ich verschwitzt, hungrig und zittrig von dem Kaffee, den ich den ganzen Nachmittag über in mich hineingeschüttet hatte, aber ich war auch zufrieden.
Bis Tin-Tin in mein Büro kam.
»Das ist doch gelogen, oder?«, fragte sie noch an der Tür.
Ich seufzte. Ich mochte das Mädchen, ich mochte seinen Großvater und ich wollte sie nicht anlügen, aber ich hatte mir geschworen, bei meiner Geschichte zu bleiben. Wenn man schon log, musste man das konsequent tun, hatte Daniel immer gesagt. Damals, als er noch ein schlechter Mensch war. Schon als schlechter Mensch hatte mein Bruder meist recht mit dem, was er sagte.
»Wie kommst du darauf?«
»Die wollen nicht, dass wir die Tiere töten.«
»Wir töten keine Tiere.«
»Du weißt genau, was ich meine.«
Ja, Mädchen, dachte ich, ich weiß genau, was du meinst. Ich höre das von morgens bis abends in meiner eigenen Wohnung.
»Woher weißt du überhaupt davon?«
Sie blickte mich mit ihren schwarzen Augen an, als sei ich nicht ganz zurechnungsfähig.
»Alle reden darüber. In der Schule hat unsere Lehrerin davon erzählt. Sie war dabei.«
Mir wurde heiß. Wenn sie eine der Aktivisten war, war ich geliefert. Dann kannte Tin-Tin bereits die ganze, fiese Wahrheit. Und der Rest der Schule auch. Ich räusperte mich, damit meine Stimme nicht so zittrig und kraftlos klang, wie mir zumute war. »Wo war sie dabei?«
»Sie hat auf dem Markt eingekauft, als die Leute kamen.«
Ich nahm die normale Atemtätigkeit wieder auf.
»Ich war auch dabei«, sagte ich.
Tin-Tin blickte mich nur an. Bei diesem Blick lief mir ein Schauer über den Rücken, so intensiv und forschend war er. Ich nahm mir vor, Josef zu fragen, was mit diesem Kind nicht stimmte. Sie war einfach nicht wie andere Mädchenihres Alters. Sie war so ernst. Sie wirkte furchtbar jung und steinalt zugleich. Selten hatte ich einen Menschen getroffen, den anzulügen mir dermaßen zuwider war. Ich log prinzipiell nicht viel, aber bei den Journalisten hatte es mich nicht so sehr gestört. Tin-Tin anzulügen hingegen verursachte mir körperliches Unwohlsein.
»Ich mache jetzt Schluss, ich bin total fertig«, sagte ich und begann, meine Sachen zusammenzupacken.
Sie drehte sich wortlos um und verließ mein Büro. Obwohl ich wusste, dass abrupte Abschiede ihre typische Art waren, empfand ich ihr Verhalten als Vorwurf. Und ich wusste, dass er berechtigt war.
Leider ließ die nächste unerwünschte Konfrontation nicht auf sich warten, denn auf dem Mäuerchen vor dem Gebäude der Siebendt-GmbH saß Thomas. Er warf mir einen desinteressierten Blick zu, schaute zurück zum Eingang und dann wieder zu mir. Er bekam große Augen. Ich blickte verunsichert an mir herunter, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Bis ich kapierte, dass er mich
Weitere Kostenlose Bücher