Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
oder TV-Star werden, die weltbedeutenden Bretter interessierten sie nicht.
Barbara ließ den Verschluss des Flachmanns knacken und notierte sich die Frage, wo denn die Eingangsschreiben der Schauspielschulen geblieben waren, denn im vorläufig Vorläufigen Tatortbefundsbericht tauchten sie nicht auf. Schon nach der Lektüre des ersten Tagebuches hatte sie aber sieben solcher Schulen gezählt. Im Übrigen war der Schauspieler, der mit ihr die Rollen einstudiert hatte, bislang nicht erwähnt worden.
Damit, dass sich in den Diarien die infantile Welt eines gehandicapten Mädchens mit unrealisierbaren Träumen öffnete, hatte Barbara gerechnet. Was sie frappierte, war die lange Liste von Männerbekanntschaften, die für eine junge Frau, die allgemein als schüchtern, als Mauerblümchen oder sogar als asexuell beschrieben wurde, beinahe unglaubwürdig wirkte. Lena schrieb von Fahrten an den Strand, die sie mit dem Rad unternahm, dem Anschein nach zu allen Jahreszeiten. Gern wanderte sie von Warnemünde bis zur Stolteraa, aber sie radelte auch nach Börgerende oder Nienhagen und manchmal sogar bis nach Heiligendamm oder Kühlungsborn, dies aber nur im Sommer. Immer lernte sie Männer kennen, die sie ansprachen.
»Ungefähr auf Höhe des BEST WESTERN kam ein Typ vom Strandweg runter ans Wasser. Ziemlich kräftig, dunkle Locken, aber kein Ausländer. Als er sah, dass ich allein war, fragte er, wohin ich denn will? Ich sagte Stolteraa, da wollte er mit. Er heißt Bernhard, kommt aus Berlin, und wir sind nie bei der Stolteraa angekommen, weil wir mit seinem Porsche gleich zu mir gefahren sind«, lautete einer dieser Einträge, bei dem vor allem der Porsche ein Stirnrunzeln auslöste. »Auf der Promenade von K’born einen sehr netten Typen aus Dresden kennengelernt, Student an der TU, heißt Björn. Blond und blaue Augen, passt zum Namen. Wir gingen bald ins Bett«, so ein anderer Vermerk. Wo ins Bett?, überlegte Barbara. Wohl in Kühlungsborn, oder hatte Björn ein Fahrrad dabei? Oder ein Auto mit Fahrradständer? Das Tagebuch gab keine Auskunft.
Seltsam war, dass Lena immer wieder mit Zitaten um sich warf, als wolle sie vor sich selbst mit ihrem Wissen glänzen. Aus Hundert Jahre Einsamkeit – obwohl sich in ihrer Wohnung allein die deutsche Ausgabe befunden hatte, schrieb sie immer Cien años de Soledad – hatte sie öfter zitiert, also hatte sie es wohl unlängst und anscheinend auch mehrmals gelesen: »Der beste Freund ist der, der gerade gestorben ist«, bekam Barbara um die Ohren gehauen. »Eine Minute der Versöhnung wiegt mehr als ein ganzes Leben der Freundschaft« oder »Es regnete vier Jahre, elf Monate und zwei Tage (Marquez über das Rostocker Wetter)«. Das war ebenso verunglückter Humor wie der für Uplegger typische, und bei allem Gespreize machte sie Fehler, denn beim Namen fehlte der Akzent.
Aus Los rituales del caos zitierte sie auch, auf Spanisch En la práctica gana el ánimo contabilizador und auf Deutsch, vielleicht in eigener Übersetzung: »In der Praxis siegt die Krämerseele.«
Nach dem dritten Tagebuch hatte Barbara die Nase voll von der eitlen Vorstellung, von diesem Impression Management im eigenen Intimbereich. Lena Schultz hatte stets nur die Vornamen aufgeschrieben, die sich Barbara notierte; nach Tagebuch Nr. 3 war nicht nur der Flachmann leer, sie hatte auch 27 Namen auf der Liste. Und sie hatte Durst.
7-Ort, 12.19.19.14.13 2 Ben 16 Yax
Lieber Papa,
außer den Schätzen, die ich hüte, sind die Norddeutschen Neuesten Nachrichten das Einzige, was von dir übriggeblieben ist in diesem Haus: Die Alte und der Typ haben das Abo behalten. Und nun melden die NNN sensationelle noticias : Im Gespensterwald bei Nienhagen, wo vor einiger Zeit eine schwedische Familie abgeschlachtet wurde, hat man einen Schädel mit femininen Zügen gefunden! Genauer gesagt, nur die Schädeldecke, fachlich als Kalotte zu bezeichnen. Spannend, oder? Die Kalotte ist alt, stammt wohl aus dem Zweiten Weltkrieg … Ich hefte den Artikel trotzdem an die Pinnwand.
Ich möchte dir jetzt beschreiben, welche Bücher immer neben meinem Bett liegen, damit ich jederzeit darin lesen kann. Da ist natürlich dein Aufsatz, dann alles von Wolfgang Cordan, was wir schon hatten oder was ich antiquarisch auftreiben konnte. Ich bin nämlich ganz sicher, dass du in Chichicastenango warst, um die Spur von Cordan aufzunehmen. Ich weiß von der Polizei, dass du auch im Hotel Chuguila abgestiegen bist – wo er auf mysteriöse Weise
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