Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
Frage?«
Barbara hob den Bericht in die Höhe: »In Lenas Wohnung wurden nur sehr wenige Bücher gefunden. Wenn sie ihren Eltern erzählt hat, sie würde in ihrer Freizeit viel lesen, dann war das eine glatte Lüge. Eines der Bücher trägt den Titel Die Lust an Lack und Leder . Vielleicht wurde Lena mit ihrer eigenen Machete getötet, mit der sie sich gern den Hintern versohlen ließ? Ich meine natürlich die flache Seite der Klinge. Wäre das abwegig?«
»Lack- und Lederfetischismus und Sadomasochismus sind zwei Paar Schuhe«, erwiderte Uplegger.
»Ja, aber manche haben beide Paare im Schuhschrank.«
»Oder unsere Diseuse ist die Macheten schwingende Domina«, gab er zu bedenken, allerdings mit einem Gran Ironie.
»Na ja, war nur so ein Gedanke.« Barbara schob den Bericht in eine Mappe.
Alle Substantive, die auf Vokal oder auf die Konsonanten n und s enden, werden in der Regel auf der vorletzten Silbe betont. Abweichungen müssen mit einem Akzent gekennzeichnet werden.
Mit diesem Wissen würde Barbara den Mordfall im Handumdrehen aufklären, und zwar akzentfrei.
***
Verschiedenes hatte Barbara bewogen, für sich den Feierabend auszurufen: Sie war seit mehr als 48 Stunden fast ununterbrochen auf den Beinen, sie musste Bruno füttern, ihn mit Insulin versorgen und mit ihm schmusen, damit seine Katerseele keinen Schaden nahm, und sie wollte nun doch ein wenig in Erinnerungen schwelgen. In ihren eigenen und auch in denen von Lena Schultz. Deshalb hatte sie deren Tagebücher nach Hause mitgenommen.
Durst hatte sie nicht.
Mit dem Kater war sie nach 30 Minuten fertig. Er war hochbetagt, nach dem Fressen, der Spritze und ein paar Minuten an Frauchens Busen hatte er sich in seinen Schlafsessel zurückgezogen und schnarchte schon. Auf der Suche nach dem alten Spanischbuch stand Barbara vor der Bücherwand im Wohnzimmer und ließ ihren Blick über die Buchrücken schweifen. Er blieb für einige Sekunden an den vier Bänden von Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften hängen, an dem sie mehrmals gescheitert war, als wissbegierige Abiturientin in Band zwei, später dann schon auf den ersten Seiten. Kommissariatsleiter Wendel verdankte seinen Spitznamen nicht diesem Roman, zumindest nicht en primera linea . Ha, immer mehr Brocken Spanisch kehrten zurück! Sie erinnerte sich jetzt sogar, dass das seit mehr als 30 Jahren nicht berührte Lehrbuch zwar einen gelben Einbanddeckel gehabt hatte, aber keinen gelben Rücken.
Döblins November 1918 hatte sie komplett gelesen, aus historischem Interesse. Oh, Gott, und daneben stand Der Friede im Osten , wenn auch nur der erste Band. Hatte sie die DDR-Literatur denn nicht vollständig ins Schlafzimmer und im dortigen Regal in die zweite Reihe verbannt? Und wo waren die Lateinamerikaner? Im dritten Fach von oben mussten sie sein, und vielleicht fand sie dort auch Vladimiros gelbes Buch.
Barbara schaute hinauf. Ihre Gedanken schweiften, der verschollene Lateinamerikanist Dr. Laube kam ihr in den Sinn.
Im Jahre 1995 hatte sie noch nicht bei der Mordkommission gearbeitet, damals hatte es diese noch gar nicht gegeben. Sie wurde erst per 1. September 1997 gebildet, als man in Folge der gescheiterten Aufklärung eines Mordes an einem jungen Mädchen die ermittelnden Kräfte bündeln wollte. Und Barbara war auch nicht ganz von Anbeginn dabei, sondern erst im Sommer 1998 dazugestoßen, nach einer dreimonatigen Interimsherrschaft bei der Kripo Sanitz und nach einigen Jahren Raub. Die Ermittlungen im Fall des Dr. Laube mussten schon vorläufig eingestellt gewesen sein, vorausgesetzt, dass es solche überhaupt gegeben hatte. Vielleicht war sein Fall auch bei der Vermisstenstelle geblieben und nie auf den Tischen von Leib und Leben gelandet, weil man ein Tötungsverbrechen ausgeschlossen hatte. Wer hatte schließlich nicht hin und wieder den Wunsch, mir nichts, dir nichts zu verschwinden und all den Alltagsdreck hinter sich zu lassen – vor allem, wenn man gerade abgewickelt worden war?
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog Asturias’ Roman Die Maismänner aus dem Regal, wobei sie fast das Gleichgewicht verlor. Wieder sprangen ihre Gedanken, und ihr fiel ein, dass es etliche Unterschiede gab zwischen dem iberischen und dem lateinamerikanischen Spanisch: So hieß der Fahrschein billete , jenseits des Ozeans aber boleto . Wie viel überflüssiges Wissen doch in den Gehirnwindungen gespeichert wurde. Das Wort boleto schmeckte herb wie Bitterschokolade, die Barbara nur selten aß.
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