Moerder Im Gespensterwald
Mitschüler, der sie erkannt hatte? Bloß das nicht …
Es gelang ihr, die Balance zu wahren, und sie sah rasch wieder klar. Allerdings waren ihre Beine gelähmt, sie konnte sich überhaupt nicht bewegen und sich an eine Hauswand lehnen, wie sie es gern getan hätte. Und auch mit ihrem Atem stimmte etwas nicht – obwohl sie hechelte wie ein durstiger Hund, bekam sie keine Luft.
»Barbara!« Jemand eilte ihr zur Hilfe. Jetzt erkannte sie die Stimme: Es war Uplegger, und obwohl sie nicht wollte, dass er sie in diesem Zustand sah, war sie doch froh.
»Was …? Sie hyperventilieren!« Jonas war bei ihr, packte ihre Arme, schob sie rückwärts. Sie spürte eine kalte Wand im Rücken, und plötzlich merkte sie, dass ihr Gesicht nass war. Uplegger riss die Umhängetasche an sich, öffnete den Verschluss, wühlte darin. Nach wenigen Sekunden bekam sie eine Plastiktüte über das Gesicht gestülpt – wieso hatte sie eine Tüte in der Tasche?
»Atmen Sie! Atmen Sie so ruhig wie möglich!«
Barbara folgte. Anfangs war es noch Schnappatmung, aber nach und nach hatte sie das Gefühl, endlich Luft zu bekommen. Sie spürte ihre Beine wieder, die eiskalten Füße, und als sie versuchte, die Zehen zu bewegen, gelang ihr das.
Der Anfall war überraschend schnell vorüber, allerdings fühlte sie sich sehr schwach. Sie erkannte nun, dass die Tüte die Verpackung des unsäglichen TShirts war, die sie in die Tasche gestopft und dann vergessen hatte.
»Was ist passiert?«
»Der Friedhof, Jonas.« Mühsam kamen die Worte. »Die Toten … Sie wehren sich … schlüpfen aus den Gräbern in unsere Gedanken … – Wieso sind Sie überhaupt hier?«
»Ich habe gesehen, dass Sie an der Ecke beinahe umgekippt wären.« Er stützte sie, und langsam kehrten sie zur Bahnhofstraße zurück. »Wollen Sie nicht doch mitkommen?«
»Bitte, nein! Nicht nach …« Schon wieder begann dieses qualvolle Ringen nach Luft, und schnell presste sie die Tüte vor den Mund. Uplegger öffnete die Beifahrertür. »Haben Sie Schnaps?« Er schüttelte den Kopf, war ihr beim Einsteigen behilflich. »Nur fünf Minuten, dann können Sie fahren.«
»Ich begreife zwar nicht … Ich kann nur vermuten …«
»Wer weiß, was mit mir geschehen wäre, wenn Sie nicht geholfen hätten.« Barbara knetete die Tüte mit beiden Händen. Auch er stieg ein. »Also …« Sie musste schlucken. »Wir sind im Sommer fast jeden Samstag an die See gefahren … Manchmal auch im Herbst und Winter. Sonntag ging nicht, da war Friedhof angesagt. Mit Muddern. Während … er …« Sie brachte es nicht heraus und musste eine Pause einlegen. Uplegger schwieg und schaute auf die Straße. »Er … aber am Sonnabend … Boltenhagen. Hin fuhr mein Vater. Mit unserer himmelblauen Rennpappe. Trabant 601. Haben Sie ehrlich keinen Schnaps?«
»Sie haben hyperventiliert! Was Sie brauchen, ist eine Valiumspritze! Wasser können Sie bekommen …«
»Ja, bitte.«
Uplegger langte auf der Rückbank nach der Flasche.
»Wie gesagt, mein Vater fuhr hin. Zurück …« Sie schluckte und schluckte.
»Sie haben sich … auf diesen Ausflügen … gelangweilt?«
»Oh, nein, sie waren höchst unterhaltsam.« Die Verbitterung wuchs mit jedem Wort. »Wissen Sie, warum meine Mutter zurückgefahren ist? Weil mein Vater nach zwei Stunden an der wunderschönen See besoffen war wie ein Stint. Und weil er meinte, sie würde mit ihrer Fahrweise dem Getriebe schaden, bekam sie zum Dank ein blaues Auge.«
»Mein Gott!« Uplegger verspürte einen Stich ins Herz. Er hatte geahnt, dass seine Kollegin schlimme Erlebnisse in den Beton des Verschweigens und Verdrängens gegossen hatte, doch hatte er immer gedacht, es müsse etwas mit ihrer Körperfülle zu tun gehabt haben. Mit einem trunksüchtigen prügelnden Vater hatte er nicht gerechnet.
»Gott? Dass ich nicht lache! Der hat zugeschaut, genau wie alle in diesem Nest. Und jetzt Schluss damit! Das ist lange her und längst gestrichen.«
»Sieht nicht so aus, als wäre es das.«
»Ich hatte schon befürchtet, dass hier alles wieder hochkommt. Trotzdem … Es ist ermittlungstechnisch notwendig, dass wir uns vor Ort ein Bild machen. Dienst ist Dienst … Fahren Sie jetzt. Mir geht es besser.« Sie trank etwas Wasser, dann öffnete sie die Tür.
»Machen Sie keinen Unsinn«, sagte er, und seine Stimme verriet Sorge.
»Nicht mehr als sonst«, erwiderte sie. Und lächelte sogar. Irgendwie hintergründig. Gerade dieses Lächeln verstärkte sein Unbehagen. Aber sie war
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