Moerder Im Gespensterwald
von einst nicht heran.
Barbara ging die Grubenstraße entlang, in deren Mitte eigentlich ein Bach sprudeln sollte, aber wie so oft klaffte zwischen Plan und Wirklichkeit eine Lücke. Ihre Gedanken kreisten noch um das Gedicht von Johannes Erbrecher, wie sie den Verfasser damals genannt hatten. Im Rhythmus ihrer Schritte begann sie lautlos zu deklamieren:
Er rührte an den Schlaf der Welt
Mit Worten, die Blitze waren.
Sie kamen auf Schienen und Flüssen daher
Durch alle Länder gefahren.
Sie konnte es noch. Nach mehr als 30 Jahren!
Er rührte an den Schlaf der Welt
Mit Worten, die wurden Brot,
Und Lenins Worte wurden Armeen
Gegen die Hungersnot.
Der Laden hatte nur ein Fenster, das man mit viel gutem Willen als Schaufenster bezeichnen konnte. Die Auslagen sahen aus, als verstaubten sie hier seit Barbaras Rezitationswettbewerb. Eines der Bücher, Klassenkampf – Tradition – Sozialismus , besaß sie selbst auch noch, aber sie hatte es in die zweite Reihe verbannt. Für einen Euro war es hier zu haben. Auch andere Bücher weckten gute und schlechte Erinnerungen: Makarenkos pädagogisches Poem Der Weg ins Leben, Der Friede im Osten von Erik Neutsch, Dieter Nolls Roman Kippenberg , dessen Anblick sie schaudern ließ.
Schwungvoll öffnete sie die Tür. Ein Glöckchen klingelte, sie fühlte sich sofort zu Hause. Die Regale an den Wänden reichten bis zur Decke und waren vollgestopft mit Büchern, aber damit nicht genug, auf mehreren Tapeziertischen stapelten sich die Bücher kreuz und quer. Es roch nach Staub und Folianten aus feuchten Kellern, und um zu den Regalen zu gelangen, musste man sich zwischen den Tischen hindurchzwängen; für den Inhaber, geschweige denn Kunden, war eigentlich kein Platz. Durch einen Vorhang hörte Barbara einen Wasserkessel pfeifen.
»Ich komme gleich!«, rief eine brüchige Stimme. Vermutlich war Hübner schon seit Jahren Rentner, konnte sich aber von seinem Geschäft nicht trennen.
Barbara rief in den Raum:
»Er rührte an den Schlaf der Welt
Mit Worten, die wurden Maschinen,
Wurden Traktoren, wurden Häuser,
Bohrtürme und Minen –«
Und hinter dem großen Tuch tönte es zurück:
»Wurden Elektrizität,
Hämmern in den Betrieben,
Stehen, unauslöschbare Schrift,
In allen Herzen geschrieben.«
Hier war die Welt eindeutig noch in Ordnung. Barbara ließ den Blick über das schöne Chaos schweifen und entdeckte auf einem schiefen Stapel mit den gesammelten Werken von Sigmund Freud eine Broschüre mit dem Titel Die Wirksamkeit einer oligoantigenen Diät bei Kindern mit expansiven Verhaltensstörungen . Wie sie sich getäuscht hatte! Der Irrsinn hatte auch diesen lauschigen Winkel erreicht.
Heinz Hübner hatte sich verändert: Er war geschrumpft. Eine gebeugte Haltung hatte er schon früher gehabt, wie man sie von einem Antiquar und Bücherwurm auch erwartete, aber er schien wirklich ein paar Zentimeter kleiner geworden zu sein. Sein Haar war noch voll, wenn auch weiß, und er trug es nicht nur lang, er hatte es im Nacken zu einem Zopf gebunden, der ihm sage und schreibe fast zum Gesäß reichte. Die Augen waren trübe, aber wach. Die Brille, die er trug, glaubte Barbara wiederzuerkennen. Auf jeden Fall war sie alt, und ein Bügel war beschädigt, sodass er ihn mit Heftpflaster umwunden hatte. Der Mann war ein skurriles Unikum, und dafür mochte Barbara ihn.
»Die Frau von der Kriminalpolizei!« Hübner erkannte sie sofort. In der rechten Hand trug er einen riesigen Pott mit türkisch aufgebrühtem Kaffee, in der linken ein Buch mit grauem Einband. »Der erste Kunde des Tages. Die Buchbranche ist eben eine Bruchbranche … Millionär werde ich nicht mehr, jedenfalls nicht in diesem Leben.« Er stellte die Tasse einfach auf einen Buchstapel, und der Kaffee schwappte über den Rand. Etwas zittrig war er auch schon.
»Spannend?« Barbara deutete auf das Buch.
»Tja …« Er hielt es hoch, zeigte ihr den Titel: Niederdeutsch im Nationalsozialismus. Studien zur Rolle regionaler Kultur im Faschismus. »Ich halte einen Vortrag darüber, bei den Plattspräkers . Man macht doch jetzt überall Vergangenheitsüberwältigung. Mal sehen, ob wir Freunde des Platt auch etwas wiedergutmachen müssen. Kann doch sein, dass wir das eine und andere Wort jemandem zurückzugeben haben. Den Erben der Erben. Aber dass sie das Lenin-Gedicht von Becher noch können, alle Achtung!«
»Ich musste das mal in der Schule vortragen. Auf dem Weg ist es mir wieder eingefallen.«
»Weil es ein Weg
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