Moerder Im Gespensterwald
sie fragte oder bat, half sie auch. Doch wann hatte sie sich helfen lassen?
Eine Karteikarte genügte. Ein Karteikärtchen.
Barbara kamen die Tränen.
Sie, die sich Selbstmitleid verboten hatte, begann zu heulen.
***
Martin Dünnfelder hatte in den letzten Stunden jegliche Sonnenbräune verloren und war grau geworden. Die Tränen waren versiegt, er war nun ruhiger, wirkte fast starr. Er tat Uplegger leid, aber Mord duldete keinen Aufschub.
»Können Sie noch?«, fragte er also in dem einfühlsamen Ton, für den Barbara ihn manchmal bewunderte und ihn manchmal auslachte.
»Schon lange nicht mehr. Aber wenn Sie noch etwas wissen wollen … Legen Sie los!«
»Was glauben Sie, wodurch ist Ihre Frau so geworden?«
»Das frage ich mich auch. Und zermartere mir das Hirn. Warum? Wie? Wodurch?« Dünnfelder zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es wie bei jedem Menschen. Wie nennt man das so schön? Multikausal. Gene plus Biografie. Prädisposition, Erfahrungen in der Kindheit, traumatische Erlebnisse … Worte, alles Worte!« Er zog die Mundwinkel herab. »Mein Schwiegervater hat mir erzählt, dass Mareike als Kind fürchterlich verschmust und anhänglich war. Sie hat geklammert, so wie …« Er schluckte. »Wie Karina. Weil sie Angst hatte, Angst, weniger geliebt zu werden als ihre ein Jahr ältere Schwester. An die hat sie sich auch gehängt, aus Eifersucht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Na ja, vermutlich hat sie ihre Schwester nicht aus den Augen gelassen, weil sie fürchtete, dass die sonst alle Liebe abbekäme. Dass die Eltern ihre Zuwendung nur heucheln und sie sozusagen ausschalten, sobald sie das Zimmer verlässt – ohne ihre Schwester. So ungefähr. Das ist nur eine Theorie. Meine Theorie. Vielleicht war es auch ganz anders.«
»Ihre Frau klammert also auch.«
»Ja.« Ein winziges Lächeln. »Meine beiden Frauen, richtige Klammeraffen. So habe ich sie manchmal aus Spaß genannt: Klammeräffin und Klammeräffchen. Das war nicht bös’ gemeint – doch wie es bei Mareike ankam … Statt zu lachen hat sie es als Grundsatzkritik aufgefasst und mit Wutanfällen reagiert.«
»Ihre Frau scheint öfter …«
»Allerdings. Sie besteht praktisch nur aus Wut.«
Uplegger nickte vor sich hin. Solche Menschen kannte er aus langjähriger Erfahrung ebenso wie aus der Fachliteratur, und er fragte sich, wie viele Leute wohl mit mühsam unterdrückter Wut herumlaufen mochten, bis sie eines Tages in die Luft gingen. Die Dauerwütenden, so hatte er sie für sich getauft, waren oftmals zugleich Dauergekränkte. Womöglich gehörte auch der leicht aufbrausende Nienhäger zu ihnen, auf den er das Gespräch nun lenkte.
»Sagt Ihnen der Name Jähnicke etwas?«
»Fischer Jähnicke? Und ob!« Dünnfelder schlug mit der rechten Faust auf die linke Handfläche. »Ein fürchterlicher Mensch, ein Streithammel vor dem Herrn. Eigentlich sind es drei, der Alte und seine beiden Söhne. Manche im Ort nennen den Vater auch den wilden Witwer.«
Uplegger fuhr ein wenig zusammen, denn ein Witwer war auch er. Nur nannte er sich nicht so: Mit dem Wort assoziierte er ein hohes Alter, und alt war er nicht. Seine Frau war tot, aber er war doch kein Witwer! Oder nur in der Sprache der Ämter.
»Mit wild ist sicher nicht gemeint, dass er hinter den Frauen her ist?«
Dünnfelder schüttelte den Kopf.
»Sein Temperament. Kleinigkeiten bringen ihn auf die Palme. Er fühlt sich ständig belästigt: Wenn seine Nachbarn Besuch haben, wenn ein Hund bellt, wenn Kinder spielen und und und. Taucht ein Streifenwagen in Nienhagen auf, fragt man sich zuerst, ob der wieder von Jähnicke gerufen wurde.«
»Vielleicht hat ihn der Tod seiner Frau mit Hass geladen.«
»Er war schon vorher so. Ein Miesepeter, ein narrscher Pötter. Im letzten Jahr hat er den Bogen allerdings überspannt. Stellen Sie sich vor, seine Nachbarn hatten Besuch aus Thüringen, ein Paar mit drei Kindern. Natürlich ging es da nicht leise zu. Aber Jähnicke wünscht rund um die Uhr Totenstille. Er hat auf die Kinder geschossen!«
Uplegger schaute entsetzt: »Scharf?«
»Nein, mit dem Luftgewehr. Er hat auf Bäume gezielt, um die Kinder einzuschüchtern. Außerdem wird vermutet, dass er hinter dem Verschwinden von Nachbarkatzen steckt und sie abgeknallt hat. Man hat ihn zur Rede gestellt, aber da war was los! Reihum brannten Briefkästen in der Umgebung seines Hauses. Dahinter steckt er, darauf können Sie Gift nehmen. Er und seine Söhne, denn die sind
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