Moerder Im Gespensterwald
schließlich Rechte. Die meisten Zeugen, Verdächtigen und Beschuldigten kannten sie schon, wenn auch nicht aus der Rechtsberatung, sondern aus dem Fernsehen, und so waren manche überrascht, dass ihnen nicht die Miranda Warning vorgetragen wurde: ›You have the right to remain silent. Anything you say can and will be held against you in a court of law. You have the right to talk to a lawyer …‹ – weiter wusste Barbara den Text nicht.
»Herr Henke«, begann sie, »Sie sind ein engagierter Waldschützer …«
»Nicht nur das.«
»Richtig. Aber Schritt für Schritt. Sie haben die Regionalorganisation von Wood Watchers für Westmecklenburg-Nordvorpommern …«
»Andersherum«, sagte er.
»Bitte?«
»Es ist die Regionalorganisation Nordvorpommern-Westmecklenburg.«
Was war das denn für ein Erbsenzähler? Wahrscheinlich war er Student. Nur ein wichtigtuerischer Student konnte sich so an Peanuts klammern.
»Wie auch immer. Was machen Sie beruflich?«
»Ich leite unser Stralsunder Büro. Und damit die Regionalorganisation.«
»Ist das ein Ehrenamt?«
»Ja. Aber es ist ein Fulltime-Job.«
»Mit anderen Worten: Sie sind arbeitslos?«
»Was erwarten Sie in einer Stadt mit einer Arbeitslosenquote von 26 Prozent? Ich habe angefangen zu studieren, Geoökologie an der Bergakademie Freiberg. Aber Studieren ist mir zu trocken, ich muss etwas tun.«
»Farbbeutel werfen?«
»Bitte?« Henkes Augen wurden zu Schlitzen.
»Das haben Sie doch getan. Sie haben mit schwedischen Kumpanen Farbbeutel auf das Haus eines gewissen Robert Gundersen geworfen. Beim zweiten Mal hat Sie die Polizei erwischt.«
»Wissen Sie, wer das ist?«
»Gundersen? Ja, das weiß ich: Chefingenieur des Atomkraftwerkes Ågesta.«
»Also ein Oberschwein.«
»Na ja«, Barbara wiegte den Kopf hin und her, »ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass die schwedischen Atommeiler abgeschaltet werden, nur weil Sie mit Farbbeuteln nach Chefingenieuren werfen. Woher kannten Sie Gundersen respektive sein Haus?«
»Durch die schwedischen Aktivisten.«
»Und woher kennen Sie die?«
»Von der 2008er Frühjahrskonferenz der deutschen Anti-Atom-Bewegung in Ahaus. Da war auch eine kleine Delegation aus Schweden mit Eia Liljegren-Palmaer, der Vizevorsitzenden der schwedischen Kernkraftgegner. Wissen Sie, in Schweden existieren zehn AKWs, und bei einer Volksabstimmung wurde entschieden, sie alle abzuschalten. Aber die Regierung hat das Volk betrogen, wie überall. Wegen der starken Atomlobby, klar? Außerdem ist Vattenfall ein Staatskonzern. Leider gibt es in Schweden nur sehr wenige Aktive, und weil ich ein ziemlich guter Organisator bin, haben mich die Leute gebeten, ihnen eine Großdemo auf die Beine zu stellen. Motto: Fukushima är överallt. Stoppa Atomkraften! Aber irgendwie … Ich habe mir den … Arm ausgerissen, und die anderen auch. Am Ende waren dann aber nur 500 Leute auf Sergels Torg. Das ist ein Platz in Stockholm.«
»500, sagen Sie. Was sagte die Polizei?«
»200. Die korrigieren immer nach unten.«
Barbara musterte den arbeitslosen Ex-Studenten und erkannte eine heftige Leidenschaft, die ihn beim Sprechen über seine Aktivitäten befallen hatte – was ihr imponierte. Er hatte wenigstens ein Ziel, für das es sich lohnte, Leidenschaft zu entwickeln. Sie selbst brauchte für ähnliche Empfindungen immer ein gewisses Maß an Alkohol.
»Und dann?«, fragte sie. »War da ein Gefühl von Ohnmacht?«
»Was denken Sie denn? Natürlich. Die Leute sind einfach zu satt und zu träge. Erst wenn es einen Unfall gibt und ihre Kinder an Krebs sterben, bewegen sie sich.«
»Das möchte ich jetzt nicht unterschreiben. Es gibt Beispiele … aber egal. Haben Sie aus dieser Verzweiflung heraus die Farbattacken geplant?«
»Das war die Idee meiner Kumpels dort. Die kannten Gundersen längst, von diversen Foren, wissen Sie? Da ist er aufgetreten und hat die Kernkraft verteidigt. Na, er verdient mit ihr seine Brötchen, und nicht zu knapp.«
Barbara lehnte sich zurück. »Gundersen ist in Rostock.«
»Ja? Na und?«
»Wussten Sie es?«
»Nö, woher auch?« Er lächelte. »Wir schreiben uns nicht.«
»Das Gericht in Stockholm, das Ihren Fall verhandelt, wird, nehme ich an, eine Geldstrafe aussprechen. Sie werden nicht gerade üppig leben, für Sie wird so eine Strafe schmerzhaft sein. Wollen Sie sich nicht rächen?«
»Wir rächen uns nicht, wir machen Politik!«
»Mit Farbbeuteln?«
»Wenn alle anderen Mittel versagen? Die Leute sollen
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