Mörder im Zug
nur als herausfordernd bezeichnen konnte. Überwinde den inneren Schweinehund, schien er zu sagen. »Meine Frau ist tot.«
»Schon lange?«
»Seit zwei Jahren. Autounfall.« Uplegger trank Bier.
»Und seitdem bist du ohne Du-weißt-schon?«
»Ja. Ich komme über ihren Tod nicht hinweg. Ein Raser hat sie auf der Autobahn abgedrängt. Sie ist in die Leitplanke gekracht, ihr Wagen hat sich überschlagen …«
Was tue ich? Warum erzähle ich das alles? Einem Wildfremden? Einem jungen Homo mit schönen Augen? Der mit mir schlafen will.
»Ihr Mörder – Fahrerflucht. Ist einfach abgehauen. Man hat ihn schnell geschnappt, es gab zu viele eindeutige Spuren. Er wurde vor Gericht gestellt. Wurde …« Uplegger begann zu hecheln. Er sollte aufhören, aber er konnte nicht.
Dominic nahm abermals seine Hand.
»Ruhig, Jonas! Ganz ruhig!«
»Das war eine Farce. Die Hauptverhandlung, meine ich. Psychologisches Gutachten, Gegengutachten, Obergutachten. Der Typ war seelisch gestört. Tiefgreifend. An diese Worte erinnere ich mich besonders: tiefgreifende seelische Störungen. Kapierst du? Der Mann musste rasen, weil er eine Macke hatte. Narzisstische Persönlichkeitsstörung, Suchtproblematik, Depressionen. Auf der Autobahn hielt er sich für Gott, dem alle ausweichen müssen. Meine Frau …« Uplegger biss sich auf die Lippen. Er hatte seine Gefühle nicht unter Kontrolle. Er hatte seinen Atem nicht unter Kontrolle. Er hatte die Situation nicht unter Kontrolle. Er löste sich auf.
»Scheiße!«, sagte Dominic. Florian und Pascal hatten den Tisch verlassen.
»Der Typ kam mit Führerscheinentzug für zwei Jahre und mit einer Bewährungsstrafe davon. Außerdem musste er eine Therapie machen. Es war seine dritte. Oder vierte. Oder die hundertste. Seitdem hasse ich Psychologen.«
»Kann ich verstehen.« Dominic streichelte seine Hand.
Uplegger schluckte. »Für mich ist der Mann ein Mörder.«
»Aber du bist Polizist. Konntest du nichts machen?«
»Was denn? Urteile fällt ein Richter. Außerdem habe ich mit Verkehrsdelikten nichts zu tun.«
»Sondern?«
»Ich arbeite bei der Mordkommission.«
»Wow!« Die Bettvorhänge in Dominics Augen wackelten. »Mit Knarre?«
»Na ja«, Uplegger lächelte flüchtig, »eher mit Computer, Akten und dem Kopf.«
»Aber Knarre und Handschellen hast du doch?«
»Hm.«
»Zuhause?«
»Nein!« Uplegger riss die Hand fort. Er übernahm wieder die Kontrolle. Er leerte sein Glas. In wenigen Augenblicken würde er gehen. Allein. Von Einsamkeit zu Einsamkeit. Er straffte sich. »Ich möchte dir noch ein paar Fragen stellen.«
»Tu dir keinen Zwang an.«
»Zu Rüdi. Dem Frischfleisch-Rüden.«
»Bitte.« Dominic machte eine generöse Geste.
»Du hast gesagt, dass er alles anmacht, was unter 25 ist. Das klingt so, als hätte er nur selten Erfolg.«
»Selten ist gut.«
»Er muss ziemlich frustriert sein.«
»Kann man wohl sagen.«
»Reagiert er mitunter aggressiv, wenn er abblitzt?«
Dominic wiegte den Kopf hin und her.
»Daran kann mich nicht erinnern. Eher nicht. Er lässt die Ohren hängen und zieht ab.«
»Frisst den Frust in sich hinein?«, fragte Uplegger und dachte: bis er explodiert.
»Oder spült ihn runter.«
»Danke.« Uplegger stand auf, reichte Dominic die Hand zum Abschied, ging an den Tresen, um zu bezahlen. Wieder waren alle Blicke auf ihn gerichtet, nur die beiden Frauen beachteten ihn nicht. Er übernahm eine Runde für die Jungs, ließ sich eine Rechnung ausstellen und strebte dem Ausgang zu. Als er die Tür öffnete, war Dominic hinter ihm.
»Ich bring dich ein Stück.«
»Mein Wagen steht keine 20 Meter weit.«
»Dann bis zum Wagen.«
Sie gingen schweigend nebeneinander. Der Audi trug ein Schneekleid. Im Licht der Laternen tanzten die Flocken. Es war sehr kalt.
Uplegger entriegelte die Türen. Er wandte sich zu Dominic und hatte Trauer im Herzen. Dominic fiel ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wangen. Uplegger ließ es geschehen, aber weiter würde er nicht gehen, und der Junge wusste es.
»Ciao«, sagte er weich. »Du findest mich. Nur zum Reden.« Dann ging er ins b sieben zurück.
Uplegger stieg ein. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Er schnallte sich an. Er weinte und wusste nicht, um wen.
IV Angst
Es war nach neun, als Barbara nach einer traumlosen, viel zu kurzen Nacht ihr Arbeitszimmer betrat. Ihre Allerhöchste Pünktlichkeit Uplegger war schon da; an dem Tag, an dem er einmal zu spät erschien, würde sie einen ausgeben. Da er
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