Mörder im Zug
zu Fuß zur Arbeit gehen konnte, würde das kaum jemals vorkommen, denn weder ausfallende Straßenbahnen noch Startprobleme eines Autos konnten ihn aufhalten.
Barbara muffelte einen Gruß. Der flüchtige Blick in den Badezimmerspiegel hatte ihr verraten, dass sie trotz der Unmenge kalten Wassers, das sie sich ins Gesicht geworfen hatte, nicht gerade frisch aussah. Daran hatte auch eine große Kanne Kaffee zum Frühstück nicht viel geändert.
Uplegger strotzte vor Tatendrang. Er hatte das Büro in eine Ablage von Akten und Fotos verwandelt, und sogar auf Barbaras Schreibtisch türmten sich Ordner. Gewalttäter Sport , las sie auf deren Rückseiten und verstand es nicht.
»Verfolgen Sie eine neue Spur?«, fragte sie, während sie mit der Kaffeemaschine hantierte. Das war ihre Domäne, denn er trank meistens Tee. Am liebsten grünen, der freie Radikale fing. Ihre Empfehlung, mit seinem Radikalenfänger zum Staatsschutz zu wechseln, war nicht auf fruchtbaren Boden gefallen.
Uplegger berichtete von Sandy Ball und ihrem prügelnden Ehemann. Barbaras Herz begann zu rasen. Ihr wurde dermaßen übel, dass sie sich setzen musste.
»Was ist mit Ihnen?«
»Kreislauf«, murmelte sie. Vor ihren Augen wirbelten farbige Ringe. Ihr Blutdruck musste unnatürlich hoch sein.
»Soll ich den Kaffee …?«
»Nein, nein. Aber danke.« Sie öffnete eine Schublade, nahm Formulare für Vorladungen heraus. »Ich frage mich nur, warum Sie sich durch diese unappetitlichen Macho-Akten wühlen.«
»Danilo Ball ist ein polizeibekannter Hooligan. Schon seit Jahren reist er zu Spielen von Hansa , um Radau zu machen. Die dritte Halbzeit ist sein Lebenselixier.«
»Das machen doch sogar Söhnchen aus gutem Hause. Mal die Sau rauslassen. Feiglinge spielen echte Kerle. Was hat das alles mit unserem Geschädigten zu tun?«
»Andriejus war ebenfalls Hansa – Fan …«
»Steht er in der Gewalttäterdatei?«
»Hab ihn bislang nicht gefunden.« Uplegger griff zu einer Lupe, studierte ein Lichtbild. »Ich würde diesen Ball gern für das zur Verantwortung ziehen, was er seiner Frau antut.«
»Damit das Verfahren nach Artikel 55a auf Antrag der Ehegattin wieder eingestellt wird?« Barbara bedachte ihren Kollegen mit einem zweifelnden Blick. Das Herzrasen hatte aufgehört. »Ich verstehe Ihren Zorn, aber häusliche Gewalt ist erst dann unser Bier, wenn jemand auf der Strecke bleibt. Oder hegen Sie die absurde Vermutung, Danilo Ball könnte sich vorgestern Abend in den 9511 geschlichen haben, um Andriejus zu töten? Warum? Als Hansa – Anhänger standen sie auf derselben Seite der Barrikade.«
»Ich habe etwas ganz anderes überlegt. Ich habe gestern nämlich einen Ausflug in die Rostocker Schwulenszene gemacht.«
»Ach?« Barbara kniff die Augen zusammen. »Suchen Sie Trost?«
»Das war …«
»Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung! Ich bin ein Trampel. Was hatten Sie in der Schwulenszene zu erledigen?«
»Sokolowski.« Und Uplegger erzählte. Nicht alles.
Während er sprach, rutschte Barbara immer unruhiger auf ihrem Stuhl hin und her.
»Stellen Sie sich folgendes Szenarium vor: Es ist Sokolowskis letzte Fahrt, der Feierabend winkt und damit seine einsame Bude. Im Steuerwagen sitzt ganz allein ein junger Mann, der in sein Beuteschema passt. Vielleicht verwickelt er ihn in ein unverfängliches Gespräch, sagen wir, über das Wetter. Eisenbahn und Winter, das passt. Darüber kann man stundenlang schwadronieren.«
»Ich nicht.«
Uplegger seufzte. »Nein, Sie reden lieber über Schopenhauer.«
»Den kenne ich gar nicht. Also nur den Namen … Aber ich kann den kategorischen Imperativ auswendig zitieren.«
»Ich auch bald. Darf ich fortfahren?«
»Ich bitte darum.«
»Womöglich hat Sokolowski Andriejus ein unzweideutiges Angebot gemacht? Erst ein paar Komplimente, dann etwas in der Richtung wie: Wir können doch noch ein Bier trinken gehen? Und danach zeige ich dir meine Briefmarken?«
»Sie meinen also ein zweideutiges Angebot?«
»Himmel!«
»Schon gut. Ich stelle es mir vor. Sokolowski ist zum zigsten Male zurückgewiesen worden. Er gerät in Wut, zückt ein Messer. Was voraussetzt, dass er eins dabeigehabt hat.«
»Warum nicht? Für Notfälle? Er ist klein und eher schwächlich …«
»Er ist ein Angsthase, Jonas. Der tut so etwas nicht.«
»Aber Sie wissen doch, wozu frustrierte Angsthasen fähig sind. Gerade frustrierte Angsthasen.«
»Die suchen sich aber in der Regel jemanden, der keinen Widerstand entgegensetzen kann.
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