Mörder im Zug
Schneeschicht bedeckten Rasen lagen kreuz und quer angefaulte Äpfel, in einiger Entfernung gab es ein paar Beete. Drei, vier Meter linker Hand stand ein Schuppen mit einer Katzentür, an dem ein Fahrrad lehnte. Auf dem Nachbargrundstück verstellte ein verhältnismäßig neues Haus den Blick.
»Ein tragischer Anlass.« Morten schniefte. Uplegger hörte ein Feuerzeug schnappen und drehte sich zu ihm um.
»Allerdings. Ein Tötungsverbrechen.«
Morten nickte und inhalierte tief den Rauch seiner Selbstgedrehten. Er war unfähig, die Hände auch nur für eine Sekunde stillzuhalten, sodass er mit der einen immer wieder die Zigarette zum Mund führte, mit der anderen den Stoff auf seinem Oberschenkel knetete. Uplegger war lange genug Kriminalist, um zu sehen, dass er Angst hatte.
»Der arme Andrea! Dass ausgerechnet ihm das passieren muss! Er war der vielleicht friedfertigste Mensch der Welt.« Ein kurzes Aufschluchzen fürs Protokoll. »Mann, Mann, Mann!«
»Wie haben Sie Andriejus Medanauskas kennengelernt?«
»Am Ostseegymnasium in Evershagen. Gesucht und gefunden, sagt man doch? Wir hatten gemeinsame Interessen: Fußball, also Hansa , Laufsport … 2004 sind wir sogar in Berlin Halbmarathon gelaufen. Na ja, Andrea war viel besser als ich mit meiner Raucherlunge.« Er drehte sich die nächste Zigarette.
Es wurde allmählich kalt in dem Zimmer. Uplegger schaute noch einmal aus dem Fenster, bevor er es schloss. Am Mansardenfenster des Nachbarhauses erschien der Kopf einer Frau, der er zunickte. Sofort zog sie den Kopf zurück.
»Sie haben sicher noch anderes unternommen«, sagte er.
»Klar, alles Mögliche. Strand, Kino, Disko, Kneipe, was man eben so macht. Einmal, da waren wir noch Schüler, sind wir nach Italien getrampt. Bis nach Syrakus. Wie Seume. Wissen Sie, wer das ist?«
»Nein.«
»Irgendein Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert oder so. Hat so ein Buch geschrieben, Spaziergang nach Syrakus , glaub ich. Andrea hat viel gelesen. Ich nicht. Ich hab’s nicht so mit Büchern. Bin mehr fürs Praktische.«
Auf dieses Stichwort hin sah sich Uplegger gründlicher um. Links neben dem Fenster stand ein Keyboard, an der Wand über der Couch, auf der ein paar Kataloge für Musikinstrumente lagen, hingen eine Gitarre und ein historischer Stich von New York. Die Anbauwand aus DDR-Produktion, die Morten vielleicht von seinen Eltern übernommen hatte, enthielt ein paar Fächer, in die man durchaus Bücher hätte stellen können, aber außer einem Aral – Atlas, einem Reiseführer für Lettland und einem Pilzbuch fand sich nichts.
»Waren Sie mal in Lettland?«
»Wir wollten. Im vorletzten Sommer.«
»Sie und Andriejus?«
»Ja. Und seine damalige Freundin. Aber es kam dann anders.«
»Anders?« Upleggers Blick fiel auf eine Pinnwand, die sich über dem Bett befand. Sie enthielt neben einigen Ansichtskarten und einem Hansa – Wimpel auch mehrere Fotos, die sein Interesse weckten, also trat er näher. Morten war noch nervöser geworden, er rauchte nicht nur wie ein Schlot, nun hatten auch seine Beine zu flattern begonnen.
Als Uplegger die Bilder deutlich sehen konnte, blieb er abrupt stehen.
»Was war anders?«, fragte er in scharfem Ton.
»Das sehen Sie doch«, entgegnete Morten leise.
Uplegger sah es in der Tat. Die Farbfotos waren mit einer Digitalkamera aufgenommen, auf normalem Papier ausgedruckt und dann zurechtgeschnitten worden. Den Hintergrund jeder Aufnahme bildete der Reichstag. Man sah Morten in die Kamera grinsen. Man sah Claudia einen Kussmund machen. Und man sah sie beide – wie sie sich küssten.
Hungerhaken und Bohnenstange waren ein Paar.
Barbara ließ den Schnee auf der Stadtautobahn zur Seite stieben. Sie hatte sich zwei Flachmänner Wodka gekauft, den ersten für die Not und den zweiten als Reserve. Die Notflasche war schon leer, die Reserve befand sich in der Handtasche auf dem Beifahrersitz. Barbara ging es gut. In ihrer Brust fühlte es sich warm an. Was auch immer der Tag noch bringen würde, sie war allem gewachsen – auch wenn sie in der Dienststelle die enttäuschende Nachricht erhalten hatte, dass die beiden Glatzen in der DNA-Kartei des Bundeskriminalamts nicht registriert waren. Was machte das schon? Man würde sie trotzdem finden.
Die vierspurige Stadtautobahn endete und ging in die zweispurige Rostocker Straße über. Barbara begab sich in eine Welt der Einbahnstraßen. Durch die Poststraße gelangte sie zum Kirchenplatz, wo sich zu allen Seiten der neugotischen
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