Mörder im Zug
verdrängen. Auf dem Ladentisch brannte eine Kerze, ein Teller mit Obst stand bereit, der Tannennadelduft stammte von einer Öllampe. Frau Medanauskas legte offenbar großen Wert darauf, für ihre Kundinnen eine vorweihnachtliche Atmosphäre zu schaffen. Momentan allerdings waren keine da.
Ein Glöckchen hatte Barbaras Kommen angekündigt, und die Inhaberin kam hinter einem Gestell mit Kleidern hervor, die allesamt für Mädchen mit Wespentaille bestimmt schienen. Lukrecija Medanauskas sah in ihrem enganliegenden, dem Traueranlass entsprechend schwarzen Kostüm wie aus dem Ei gepellt aus. Ihre Frisur war mit Festiger in Form gebracht und saß perfekt. Nur die Blässe des Teints und die dunklen Augenringe verrieten, dass es Andriejus’ Mutter nicht besonders gut ging.
»Guten Morgen, Frau …«, sagte sie.
»Riedbiester.«
»Ja. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte mir Ihren Laden anschauen.« Barbara trat zu dem Gestell und befühlte die Stoffe. »Sie haben sehr schöne Sachen.«
»Für gehobene Ansprüche.« Lukrecija betrachtete ihre Besucherin mit einem leeren, tränenlosen Blick. »Die meiste Ware stammt aus Italien.«
»Gehobene Ansprüche …« Barbara deutete zum Schaufenster. »Sie bieten aber auch Souvenirs an?«
»Erst seit letzter Sommer. Manchmal sind Leute gekommen in Geschäft und haben gefragt: Wo gibt Andenken? Da habe ich Sortiment erweitert.« Ein leichter Schauder schüttelte sie. »Mit Kitsch. So heißt auch in Italien: il kitsch.«
»Dito auf Englisch. Ist anscheinend der deutsche Beitrag zur Weltkultur. Na ja. Wie fühlen Sie sich, Frau Medanauskas?«
»Muss immer denken an Andrea. Wenig schlafen.« Sie schloss für einen Moment die Augen. »Keine Eltern sollen erleben, dass Kind vor ihnen stirbt.«
»Das ist sicher das Schrecklichste, was Eltern passieren kann.« Barbara schaute durch das Schaufenster auf die Straße, wo eine greise Frau mit starkem Rundrücken das Verbot aus dem Rathaus missachtete und Möwen mit Brotstücken fütterte. Ihr plissierter Rock mochte modern gewesen sein, als Barbara das Laufen lernte, aber am auffallendsten waren ihre bunten Strickstrümpfe, die aus abgestoßenen Stiefelletten ragten.
»Möchten Sie Kaffee?«
»Nein, danke.« Barbara riss sich von der Alten los. »Waren Sie eigentlich zufrieden mit Andrea?«
»Wie meinen Sie das?«
»Hat Ihnen sein Job gefallen und die Art, wie er lebte?«
Lukrecija Medanauskas sah sie irritiert an. »Er lebte bei uns.«
»Ja, sicher. Mochten Sie seine Freundin Claudia?«
»Sie war … nett. Haben sie aber nicht oft gesehen. Andrea war meistens bei ihr.«
»Auch in letzter Zeit?«
»Ja. Er sagen, Mama, ich fahre zu Claudia. Vielleicht ich bleiben dort.«
»Er hat also auch in den zurückliegenden Wochen und Monaten manchmal bei ihr übernachtet?«
Die Miene der Mutter spiegelte ihre wachsende Ratlosigkeit; sie vermutete, dass Barbara auf etwas Bestimmtes hinauswollte, doch ahnte sie nicht einmal, was es war.
»Er hatte so viel zu tun auf Arbeit. Wenn ich fragen, was ist mit Claudia, er gesagt, Mama, alles in Ordnung, aber ich muss allein sein. Wächst über Kopf, verstehen Sie? Nicht Schwiegertochter … Wir haben schon gesagt, ist Schwiegertochter, kommen bald Enkel.«
Barbara, die Frau Medanauskas nicht aus den Augen ließ, rechnete mit einem wenn auch flüchtigen Lächeln, aber nichts dergleichen geschah. Nichts verriet eine innere Bewegung, keine Träne zeigte sich. Andriejus’ Mutter war eine selbstbeherrschte Frau. Das musste keineswegs bedeuten, dass sie ein Herz aus Stein hatte. Selbstbeherrschung zählte schließlich zu den protestantischen Tugenden.
»Andriejus hat sich Ihnen doch sicher anvertraut, wenn er Sorgen hatte?«, wollte sie wissen.
»Äh, ja …« Lukrecija verstand anscheinend überhaupt nicht, was Barbara meinte.
»Das macht man doch als Kind. Man vertraut sich seiner Mutter an.« Barbara hatte es nie getan.
»Er ist doch schon erwachsen …«
»Trotzdem. Sie müssen sich doch über etwas unterhalten haben?«
»Ja, über Arbeit«, sagte die Mutter.
Das Geständnis fiel anders aus, als Uplegger erwartet hatte. Er hatte mit etwas Großem gerechnet, aber nachdem der Berg gekreißt hatte, entband er bloß eine Maus.
»Ich kiffe«, sagte Morten.
»Oft ?«
»Jeden Tag.« Er blickte angestrengt zu Boden. »Ich beginne den Tag immer mit einem Nuttenfrühstück, mit Kaffee und Zigarette. Na ja, und in die Kippe brösele ich mir etwas hinein.«
»Dann brauchen Sie jetzt
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