Mörder im Zug
Kirche Parkplätze befanden. Hinter dem Chor stellte sie den Wagen ab. Von der kostbaren gotischen Christophorus-Statue im Inneren des Gotteshauses hatte sie schon mehrfach gelesen, sie hatte sich auch vorgenommen, sie zu besichtigen, aber wie bei anderen Sehenswürdigkeiten, die vor der Haustür lagen, schob sie den Besuch vor sich her. Warum sollte sie sich beeilen? Die Statue würde auch in zehn Jahren noch an ihrem Platz sein, ja sie würde Barbara sogar überleben.
Am Alten Strom war jetzt mehr los als am frühen Morgen. Die Wintertouristen schlenderten warm eingemummelt zur Mole oder kamen von dort, sie betrachteten die Auslagen der Geschäfte oder studierten Speisekarten, während die Einheimischen, die keine Muße hatten, etwas schneller unterwegs waren. Die Möwen und Kormorane gingen ihrem Tagwerk nach, die Kormorane glotzten, die Möwen trippelten über den schneebestäubten Weg, segelten über den Strom und kreischten. Alles wie eh und je an einem kalten Novembertag.
Aus einem Lädchen für Schnickschnack dudelte Weihnachtsmusik, und in den Veranden leuchteten hie und da die elektrischen Kerzen von Schwibbögen. Barbaras Herz krampfte sich für einen Moment zusammen, doch schnell schluckte sie die Angst vor den Festtagen hinunter; bis zu den Tagen des Grauens würde noch einige Zeit vergehen, und vielleicht bekam sie kurz zuvor einen schönen neuen Mord geschenkt.
Die Boutique La Moda kam in Sicht. Barbaras Handy verlangte nach ihr. MaPentz erschien auf dem Display, der Chef der Spusi höchstpersönlich gab sich die Ehre.
»Na, du machst wohl einen Ausflug?«, fragte Pentzien.
»Wieso?«
»Ich höre Möwen.«
»Dein Gehör möchte ich haben. Also, was liegt an?«
»Der PKW des Geschädigten. Wir haben ihn in seine Einzelteile zerlegt. Als wir ihn wieder zusammenbauen wollten, haben wir wie immer ein paar Schrauben übrig behalten.« Er lachte. »Aber im Ernst: Wir haben noch n bäten Marihuana gefunden, na ja, kann man in den Skat drücken. Da war allerdings noch etwas: Schnee.«
»Bitte?«
»Koks. Ein weißes Pulver auf dem Armaturenbrett. Fürs Interpretieren seid ihr zuständig, aber ich wage mal eine Hypothese. Jemand hat auf der Fahrerseite eine Line gezogen, und dabei sind ein paar Krümel aufs Armaturenbrett gelangt. Mist, hat er gedacht und sie weggewischt. Durch diesen Versuch, Spuren zu verwischen, hat er die Spur erst geschaffen. Ist das nicht paradox?«
»So paradox, wie wenn ein Grieche sagt, dass alle Griechen lügen.«
»Was ist los?«
»Ich glaub, so erläutert Aristoteles ein Paradoxon. Schulweisheit, vergiss es! Ihr habt also winzige Spuren Kokain gefunden?«
»Das erkläre ich dir seit Stunden! In dem Wagen wurden Drogen konsumiert oder transportiert oder beides.«
»Dann haben wir vielleicht doch einen Fall von organisiertem Verbrechen.«
»May be, may be not. Ich sehe nicht gleich die Mafia am Werk, wenn mal irgendwo Stoff auftaucht. Falls es dir entgangen sein sollte: Wir leben in einer wunderbaren sozialen Marktwirtschaft, in der man zu einer Minderheit gehört, wenn man nicht irgendetwas einwirft oder inhaliert oder … na, egal! Wenn es kein Koks ist, dann ist es eben Lexotanil oder Diazepam oder die Barbie-Droge Melanotan … Schon davon gehört? Wird im Internet vertrieben als Bräunungsmittel, zum Abnehmen und zur Steigerung der Libido, ein wahres Wundermittel also!« Pentzien schnaubte verächtlich. »Mal machen wir uns high, dann machen wir uns geil, dann machen wir uns schläfrig … Das ist das moderne Leben, Barbara. Wir erzeugen unsere Gefühle jetzt künstlich, und wenn sie zu stark werden, dämpfen wir sie wieder.«
»Und was nimmst du?«
»Koffein in rauen Mengen. So, ich muss jetzt gucken, wo die Schrauben fehlen. Ciao, tschüß und bis demnächst. Over und aus!«
Barbara steckte das Handy in die Manteltasche. Dass sie laut Pentzien einer Mehrheit angehörte, verschaffte ihr keinerlei Befriedigung.
»Sie haben also Ihren besten Freund hintergangen und ihm die Lebensgefährtin ausgespannt«, sagte Uplegger. Er hatte auch in einem Sessel Platz genommen und bedauerte längst, das Fenster geschlossen zu haben. Nun war es zwar warm, aber die Luft war zum Schneiden. Morten Kröner rauchte Kette und offenbarte einen Gesichtstick: Ständig zog er Stirn und Nase kraus. Wovor nur hatte er solche Angst?
»Es ist eben passiert«, sagte er, den Blick auf den Ascher gerichtet. »Einfach so.«
»Einfach so.« Das schien heutzutage die Erklärung für fast
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