Mörder Quote
übernahm der Pressesprecher das Wort. Tanya beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie er mit Wiener Akzent jedes noch so kleine Detail der Tragödie an die Öffentlichkeit ausstreute. Natürlich wirkte er dabei nicht gut gelaunt, so viel Profi war er, aber Tanya spürte ganz genau, wie hinter all den dezenten und seriösen Formulierungen nur eins stand: Der Typ konnte sich kaum noch halten ob dieser größten deutschen Presseversammlung.
Formulierungen wie »unabsehbare menschliche Tragödie«, »hasserfülltes Drama einer psychisch gestörten Person« und »unendlich tiefes Bedauern und Trauer seitens der Produktion« waren nicht Alltag im Fernseh- PR -Geschäft, und die Worte tropften ihm von den Lippen, als hätte er gerade etwas Fettiges gegessen. Tanya wusste: Dieser Auftritt war für ihn das Showbiz-Äquivalent zu einer Kriegserklärung im Weißen Haus. Alle Augen Deutschlands waren jetzt endgültig auf diese TV -Show gerichtet. Selbst der letzte Mensch im letzten deutschen Winkel, der sich normalerweise weder für Castingshows noch für das Fernsehen insgesamt interessierte, war angefixt. Und deshalb holte der Moderator dieses medialen Sturms jetzt zu seinem big finish aus: »Natürlich haben wir uns alle hier in der Produktion und beim Sender gefragt, ob wir nach solch einer Tragödie mit der Sendung überhaupt weitermachen können. Wir haben ausführliche Gespräche mit den Kandidaten und auch der Jury darüber geführt.«
Das war Tanya neu. Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment, aufzustehen und ihren Ausstieg aus der Show zu verkünden.
»Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass nur eine einzige Person diese Entscheidung treffen kann. Und so soll es sein. Hier ist mit einer Videobotschaft – Lilly Helm!«
Sascha fiel die Kinnlade runter. Lilly würde über den Fortgang seiner Popkarriere entscheiden? Ihn hatte keiner gefragt, in keinem Moment der letzten drei Tage. Und tatsächlich erschien jetzt auf einem riesigen Flatscreen das Bild von Lilly in ihrem Krankenhausbett. Dezent geschminkt sah sie klar und direkt in die Kamera, und Sascha brauchte nur einen Blick auf sie zu werfen, um zu wissen, was sie sagen würde.
»Hallo, ich bin Lilly Helm, und ich möchte allen mitteilen, dass ich mich entschlossen habe, mit der Show weiterzumachen.« Ihre Stimme klang ganz ruhig aus dem Lautsprecher. »Ich tue das nicht für – sie –, sondern für mich. Ab jetzt tue ich alles nur noch für mich. Vielen Dank für die Anteilnahme. Wir sehen uns am Samstag.«
Sascha atmete auf, während der Applaus der Journalisten aufbrauste. Der Pressesprecher ließ für einen Moment Tragödie Tragödie sein, grinste breit, fing dann aber seine unverhohlene Freude gerade noch ein, um seinen vorgeschriebenen Text zu Ende zu lesen: »Wir respektieren natürlich Lillys Wunsch und werden deshalb mit der Show am Samstag weitermachen. Aus Pietätsgründen und um Lilly bei ihrem Auftritt nicht zu verunsichern, werden wir die Sendung ohne Studiopublikum durchführen. Die Erinnerungen an letzten Samstag sind für uns alle noch zu stark, und wir möchten weder der Jury noch den anderen Mitarbeitern der Show Flashbacks oder Déjà-vus zumuten. Wir von Music Star 3000 wünschen unseren vier Kandidaten Sascha, Chantal, Mike D und natürlich besonders Lilly Glück für Samstag! Das Motto dieser Woche heißt ›My way – personal choices‹, jeder Kandidat und jede Kandidatin singt ein Lied, das ihm oder ihr besonders wichtig ist, und widmet es den Opfern der schrecklichen Tragödie. Wie die unglaublich tapfere Lilly eben sagte: Wir sehen uns am Samstag! Danke für Ihr Kommen!«
Aus dem Augenwinkel sah Tanya, wie sich über Saschas Gesicht auf einmal ein leicht dämliches Strahlen ausbreitete und er sich direkt in einen Einzelinterview-Marathon mit verschiedenen Kamerateams stürzte. »Personal choices« – die Frau, die eben wieder einmal ihren verdienten Ausstieg aus der Medienwelt verpasst hatte, rannte an allen Reportern vorbei aufs Damenklo, stürmte in eine Kabine, ging in die Knie und erbrach ihr Frühstück in die Kloschüssel.
Das ist meine »personal choice«, dachte Tanya, als sie sich danach das Gesicht wusch. Ich kotze mich aus.
KAPITEL 31
Als Tanya am Abend in einem Kölner Brauhaus auf Nils und einen Sauerbraten wartete, wunderte sie sich, dass sie überhaupt schon wieder so etwas Deftiges bestellen konnte. Aber das war ihr Plan für heute Abend: Soul Food und die endgültige Entscheidung in der Sache Nils. Nach dem
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