Mörder Quote
eine Notarztsirene auf, und Blaulicht blinkte durch die Eingangstür mit dem schweren Glas. Jetzt holen sie mich, dachte Tanya nun schon sehr melodramatisch, aber die Sanitäter stürzten in eine andere dunkle Ecke des Brauhauses, luden irgendeinen Mann auf, der vor sich hin krakeelte, und trugen ihn zum Ausgang. Als sie an ihrem Tisch vorbeikamen, erkannte Tanya das fröhliche Pitterchen auf der Trage, das sich gerade sturzbetrunken gegen seine Abreise wehrte und Tanya anstarrte, ohne sie zu erkennen. Deutschlands betrunkenstes Comedy-Urgestein wurde an Deutschlands einsamster Blondine hinausbefördert in die dunkle und gnadenlose Nacht. Jeder geht eben mit sechs Leichen in seiner Nähe anders um, dachte Tanya, plötzlich wieder ganz nüchtern, und bestellte die Rechnung. Jeder auf seine Weise.
KAPITEL 32
Eine Castingshow ohne Studiopublikum war für Sascha noch abstrakter als eine Castingshow in dem Hochsicherheitstrakt der letzten Woche. Die Produktion hatte zwar die leeren Stuhlreihen mit Stoffbahnen abgedeckt – »wegen der Optik«, wie es hieß – und alle auf und vor der Bühne machten ihren Job, aber das Ganze hatte mehr von »Warten auf Godot« als von »Ben Hur«. Es fehlte für alles das Echo – schon beim Einzug in das stille Studio war es so, als hätte jemand insgeheim den Ton abgestellt. Wo waren all die Applausstürme und Jubelgruppen, wo der bestellte »Alarm« des Warm-Uppers? Wo waren die endlosen Marco-La-Ola-Wellen, die seinen »coolen Sprüchen« folgten, und wo war der Zwischenapplaus nach einem besonders guten Gesangsvortrag? Das Ganze bekam jetzt etwas fast Amtliches: vorne die drei Jurymitglieder am Pult mit ihren Notizen, die anscheinend den Antrag auf Beförderung zum Popstar ordnungsgemäß prüfen mussten, dort die Kameras und Tonleute zur Vermittlung des Ansinnens der vier Antragsteller an die entscheidungsbefugte Öffentlichkeit und ganz am Schluss das Urteil über den ordnungsgemäßen Verbleib in Deutschlands wichtigster TV -Show. Selbst Sascha konnte sich kaum auf seine »personal choice« – die halb religiöse, halb Fußballstadien-erprobte »You’ll never walk alone«-Powerballade – konzentrieren, weil der Zustand einfach absurd war, umgeben von Trockeneis auf einem Drehpodest zu stehen und in den stillen Raum hineinzusingen. Es war so still, dass er trotz des Halb-Playbacks zwischen seinen Tönen das Zischen der Nebelmaschinen hören konnte, die immer wieder Nebel und Trockeneis mitten in seine pseudo-religiöse Ekstase nachpumpten.
Er wäre fast in lautes Lachen ausgebrochen, als Mike D wirklich »Losing My Religion« performte und Marco ihm »so was Spirituelles« unterstellte. Als ob der Gangster Rapper irgendeiner anderen Religion angehören könnte (oder gar sie verlieren könnte) als der Bikini-Mädchen-am-Pool-Sekte und dem Goldenen-Rolls-Royce-Glauben.
Aber wenn Sascha gelacht hätte, wäre das dieses Mal zu hörbar gewesen, in all diesen stillen Momenten der Show, Momente, in denen alle Protagonisten entweder erstarrten oder hektisch und viel zu schnell irgendeine Aktion brachten, um die Stille zu füllen. Das gelang fast noch am besten Chantal mit »Imagine«, nur mit Gitarre begleitet. Dieses Lied funktionierte ja immer, auch auf dem Level »U-Bahn-Sänger allein im Neonlicht«, und brauchte kein tobendes Publikum. Aber selbst Chantal wollte natürlich bei der selbst erfundenen Zeile »Imagine there’s no gender« Applaus heischend ins Publikum schauen, bis sie leicht kurzsichtig begriff, dass da diese Woche gar keiner saß.
Und als Lilly schließlich mit »Moon River« den definitiven Schwanengesang auf ihre Mutter anstimmte und sogar der superharte Mike und sein Idol Marco fast eine Träne wegdrücken mussten, während Sascha, Chantal, Pitter und Tanya offen losheulten, liefen diese Tränen für Sascha irgendwie ins Nichts.
Zu Hause saßen zwar Millionen Menschen an den Fernsehgeräten und fühlten irgendetwas, aber dieses Gefühl kam eben heute im Studio nicht an. Das Studio war nur ein Labor, in dem alle netten Kaninchen sich dumm um sich selbst drehten und alle bösen Ratten Leitern nach oben laufen wollten, die ins Nichts führten. Eine surreale leere Wüste des Gefühls wie ein verblichener Kunstdruck von Dalí.
Auch Tanya schaffte es fast nicht durch die Show, weil auch sie zwischendurch viel zu viel Zeit hatte nachzudenken. Es waren eben zu viele Pausen da, wo sonst der Hexenkessel brodelte. Und natürlich fehlte ihr – genauso wie ihren
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