Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
Aber sie konnte sich nicht auf den Beinen halten und sank auf einen Stuhl nieder. Die Magd half ihr, sich wieder ins Bett zu legen. Frau Sandner schickte die Magd hinaus, damit sie ihre tägliche Arbeit verrichtete, wünschte aber, dass die Kellnerin Polster und die Köchin Ratzinger zu ihr kämen und bei ihr blieben.
Und so erlebten die beiden Frauen die Kranke: »Frau Sandner triefte von Schweiß, sah bleich aus und konnte sich nicht aufrecht halten. Sie jammerte über krampfartige Schmerzen in den Beinen. Dann bekam sie heftige Zuckungen, und wir konnten sie kaum festhalten, so schlug sie um sich. Sie schrie ganz laut: »Aus ist's. Aus ist's. Vergiftet haben sie mich. Ich muss sterben.« Sie schrie so laut, dass wir die Fenster schlossen, aber wir mussten sie wieder öffnen, weil sie glaubte, sie müsste ersticken.«
In diesem Augenblick erschien Dr. Kufner. Frau Sandner fragte ihn, was für eine Medizin er ihr verordnet habe, es wäre das reinste Gift. Die gleiche Medizin wie immer, erwiderte er. Er wollte ihr Morphium gegen die Schmerzen injizieren. Aber als er ihren Arm berührte, bekam sie erneut Zuckungen und schlug ihm dabei die Spritze aus der Hand, schrie nochmals: »Aus ist's!«, streckte sich und war tot.
Zwei Stunden später kam Dr. Sandner zurück. Verstört nahm er die Todesnachricht auf und begann zu weinen. Dr. Kufner suchte ihn einigermaßen zu beruhigen.
Während der nächsten Tage musste der Tagelöhner Stefan Bumberger ins Schlafzimmer einziehen und neben Sandner im Ehebett schlafen. Sandner hatte Angstzustände und wollte nachts nicht allein sein.
In der Todesanzeige, die Sandner verfasst hatte, nannte er sich einen von namenlosem Schmerz gebeugten Gatten.
Am 2. Juli wurde Frau Sandner beerdigt. Viele Menschen nahmen an der Beisetzung teil, Sandners gehörten ja zu den Honoratioren der Stadt.
Am nächsten Tag, am 3. Juli, schrieb Dr. Sandner einen Brief an Anna Kurz. Die Kurz hatte früher als Kellnerin in einem Gasthaus von Frau Sandner gearbeitet.
Sandner schrieb: »Meine allerliebste Anna, soeben, sieben Uhr früh, übergibt mir Stefan Deine lieben Zeilen. Ich lese sie mit höchstem Vergnügen. Ich weiß ja, dass Du mich aus ganzer Seele liebst. Ich weiß ja nur zu gut, dass ich Dir meine ganze Liebe zu erwidern habe. Ich weiß ja, dass ich Dir mein Herz angeschworen habe. Ich halte Dir mein Wort bis zum letzten Atemzuge. Sobald als möglich will ich Dich besuchen. Denn zu jeder Minute denke ich ja an Dich. Empfange Tausende der besten Küsse und Grüße von Deinem Dich innigst liebenden Johann.«
Wenige Tage nach dem Tode seiner Frau, der ihn angeblich so erschüttert hatte, äußerte er darüber kein Wort und wiederholte gegenüber seiner Geliebten das Heiratsversprechen, das er ihr zuvor schon mehrmals gegeben hatte.
Anna Kurz war zu dieser Zeit 29 Jahre und arbeitete als Kellnerin im Bahnhofsrestaurant Osterhofen, das ebenfalls zum Besitz der Toten gehörte. Vorher hatte Anna Kurz im Hause Sandners gedient, hatte es aber verlassen müssen. Frau Sandner hatte das Liebesverhältnis zwischen Anna und ihrem Mann bemerkt und ihre Entfernung gefordert.
Doch das hinderte Sandner nicht daran, seine Beziehung zu Anna fortzusetzen. Dabei versprach er ihr, sie zu heiraten, wenn seine Frau sterbe.
Im August, zwei Monate nach dem Tode seiner Frau, schrieb Sandner an Anna Kurz: »Dass ich die Lage, die ich mit Dir schaffen werde und, meines Manneswortes eingedenk, auch halten werde, wohl durchdacht habe, weißt Du ja. Ich kann Dir heilig versichern, dass mich kein Mensch daran hindern wird, Dich zu heiraten. Sogar meine Mutter hat gestern zu mir gesagt: >Johann, Du hast genug durchgemacht all die Jahre. Nimm Dir ein Mädchen zur Frau, das dich freut, auch wenn sie gar nichts hat.< Ja, Anna, es wäre mein größtes Vergnügen, wenn ich Dich so herzinnig als meine Frau ans Herz drücken könnte.«
Zur gleichen Zeit gab Anna Kurz ihre Stellung im Bahnhofsrestaurant Osterhofen auf und zog nach München. Wenige Wochen später suchte Sandner sie in München auf, schenkte ihr Schmuck und teilte ihrer Mutter mit, dass er Anna heiraten wolle.
Anfang Oktober erklärte Sandner öffentlich seine Heiratsabsicht. Das erregte die Leute in Osterhofen beträchtlich. Frau Sandner, die alteingesessene und vermögende Bürgerin, war eine angesehene Persönlichkeit in der Stadt gewesen. Welche Verachtung gegenüber seiner Frau lag in Sandners Absicht, so kurz nach ihrem Tode wieder zu heiraten, noch dazu
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