Moerderische Fracht
russischen Öltanker auf dem Meer angreifen. Chasimikow wollte diese Information im Westen verkaufen und hatte gehofft, dass Sergej ihm half, einen interessierten Käufer zu finden. Er war eine Ratte.«
»Wusste er, wann und wo das Attentat stattfinden soll?«, fragte ich.
»Er hatte so einen schmuddeligen Zettel dabei, von dem er abgelesen hat, und ich hatte große Probleme mit seinem Russisch. Sinngemäß hat er etwa Folgendes gesagt: Es wird am Ende des Sommers geschehen. Und es wird das elende, kleine Land treffen, das es gewagt hat, den Propheten zu schmähen, und das große, kalte, das dem Teufel Putin in den Arsch kriecht. Schließlich hat er noch ein paar Zahlen genannt: Neun – elf – vierundfünfzig – zwölf.«
»Warum hat er dir das überhaupt erzählt, wenn er die Informationen doch verkaufen wollte?«, fragte Anna.
»Ich glaube, nachdem er so weit gereist war, konnte er nicht einfach nach Grosny zurückfahren, ohne mit jemandem darüber gesprochen zu haben. Außerdem habe ich ihn mit meiner Skepsis wohl provoziert.«
»Du hast ihm nicht geglaubt?«
»Am Anfang nicht, später schon.«
Anna schüttelte den Kopf.
»Das ist Quatsch. Es gibt so viele lohnende Ziele für Terroristen. Was soll das bringen, einen Öltanker auf dem Meer anzugreifen? Und ausgerechnet Tschetschenen! Traut ihr denen das zu? Waren das nicht die Irren, die das Blutbad in der Schule angerichtet haben?«
»Na ja«, erwiderte Elena düster, »für das Blutbad haben zum Schluss die russischen Befreier gesorgt. Doch du hast recht, ich habe noch nie gehört, dass die Tschetschenen außerhalb von Russland operierten.«
»Traust du denen das technisch und logistisch zu?«, wunderte sich Anna. »Wenn ich die Kerle auf Bildern gesehen habe, schienen sie mir immer wie aus einem Karl-May-Film entsprungen.«
»Wer ist Karl May?«, wollte Elena wissen.
»Spielt jetzt keine Rolle. Ihr wisst schon, was ich meine. Orientalische Machos in Angeber-Pose, Männer mit dicken Bärten und alten Flinten.«
Elena schüttelte den Kopf.
»Die Zeiten sind vorbei. Bei den Geiselnehmern von Beslan hat man die neuesten Waffen und Gerätschaften aus russischen Armeebeständen gefunden, was Putin besonders empört hat. Die russische Armee ist genauso korrupt wie der Rest des Landes.«
»Eigentlich weiß ich überhaupt nichts über Tschetschenien«, sagte Anna.
Elena nickte. Ihr Gesicht hatte sich gerötet, und sie schien langsam wütend zu werden.
»Genau, kaum jemand im Westen weiß etwas darüber, und es interessiert auch niemanden. Ich habe die lettische Staatsbürgerschaft, und ich bin sehr froh darüber, doch im Herzen bin ich Russin. Und jeden Abend, wenn ich den Fernseher anstelle, schäme ich mich für das, was mein Land in Tschetschenien anrichtet. Klar, oberflächlich hat sich vieles zum Besseren verändert. Es gibt wieder Schulen und funktionierende Krankenhäuser in Grosny. Sogar die Universität ist wieder geöffnet. Die Trümmer sind beseitigt, und Menschen, die noch vor wenigen Jahren in ihren zerstörten Häusern vegetierten, haben heute ein Handy. Nur, die Ruhe ist trügerisch. Die Leute sind kriegsmüde und haben Angst, das ist alles. Putin und seine Handlanger haben in den letzten zwei Jahrzehnten in diesem Land so viel Hass gesät, dass die Rebellen, die es noch gibt, zu allem bereit sind. Wenn man einschätzen will, wozu sie wirklich in der Lage sind, muss man bedenken, dass es unter ihnen viele potenzielle Selbstmordattentäter gibt.«
»Die begreife ich überhaupt nicht«, warf Anna ein, »wie kann man sich umbringen, um ein Ziel zu erreichen, von dem man definitiv nichts mehr hat?«
»Das verstehen die Russen auch nicht. Weil sie sich weigern, die Hintergründe zur Kenntnis zu nehmen!«
»Und du kennst diese Hintergründe?«
»Ein paar schon. Wollt ihr einen hören? Im Sommer 2000 zum Beispiel geschah im Nordkaukasus etwas noch nie Dagewesenes. Eine junge Frau mit dunklen Haaren und grünen Augen zupfte den russischen General Gadschijew am Ärmel, damit er sie ansah, und sprengte sich dann mit ihm und acht seiner Leibwächter in die Luft. Das war Ajsa Gasujewa, die erste Schahid. Grausam? Sicher! Unverständlich? Nicht unbedingt! In dem Jahr vor dem Attentat waren sechzehn nahe Familienangehörige der Gasujewa von russischen Militärs getötet worden. Onkel, Tanten, Geschwister, Cousins, es war einfach niemand mehr übrig. General Gadschijew war zu der Zeit Militärkommandant von Urus-Martan. Als nun der Ehemann von
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