Moerderische Fracht
Ajsa Gasujewa, der als Separatist galt, verletzt in ein Hospital eingeliefert wurde, machte der General einen Krankenbesuch. Er trat nahe ans Bett heran und rammte dem Verwundeten höchstpersönlich ein Bajonett in die Brust. Vielleicht hätte die Frau auch dies noch hingenommen, doch man erlaubte ihr nicht, ihren Mann zu bestatten. Mehrmals bat sie in der Kommandantur um die Herausgabe des Leichnams. So lange, bis Gadschijew ihr vor Zeugen drohte, sie lebendig begraben zu lassen. In den Wochen danach besorgte sie sich den Sprengstoff, und der Tschetschenienkonflikt bekam eine ganz neue Dimension.«
»Mein Gott«, sagte Anna, »was für eine fürchterliche Geschichte.«
Elena drehte ihre Bierflasche unzufrieden in den Händen und starrte zu Boden.
»Davon kenne ich hundert. Habt ihr noch etwas Stärkeres als Bier?«
Ich holte eine Flasche Single Malt und musste mit Entsetzen zusehen, wie Elena ein ansehnliches Quantum achtzehn Jahre alten Highland Park auf gut russische Art in einem Zug herunterkippte. Sie war jetzt wieder so bleich wie vorher und sah eingefallen und müde aus. Ich blickte zu Anna und klopfte mit dem Zeigefinger auf meine Armbanduhr.
»Gleich«, antwortete sie, »wie ging es denn nun weiter mit Chasimikow?«
»Ich habe den ganzen Abend mit ihm geredet, und irgendwann hat er verstanden, dass aus dem großen Geld nichts wird. Er hat eingewilligt, mit mir zu den lettischen Behörden zu gehen, und ich habe ihm ausgemalt, dass er vielleicht doch eine Belohnung bekäme, wenn durch seine Hilfe ein großes Unglück verhindert würde. Als er ging, haben wir uns für den nächsten Tag in einem Café in Ventspils verabredet und wollten von dort gemeinsam zur Polizei und zur Hafenverwaltung.«
»Und?«
»Ich habe zwei Stunden auf ihn gewartet«, erklärte Elena, die plötzlich Tränen in den Augen hatte, »aber er ist nicht gekommen. Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen.«
»Glaubst du, dass er kalte Füße bekommen hat und nach Grosny zurückgekehrt ist?«
»Nein, ich glaube, dass er getötet wurde, und zwar von dem Mann, der mich heute Nachmittag angegriffen hat.«
Anna warf mir einen erstaunten Blick zu und reichte Elena ein Papiertaschentuch.
»Du kannst gar nicht wissen, ob er umgebracht worden ist, und er hat dir doch überhaupt nicht nahegestanden.«
»Ich weine nicht seinetwegen.« Elena wischte sich die Tränen ab und schniefte geräuschvoll in das Taschentuch. »Seit Chasimikow mir diese Irrsinnsgeschichte erzählt hat, muss ich dauernd an Jewgeni denken!«
»Gütiger Himmel!«, rief Anna und gab sich keine Mühe mehr, ihre Ungeduld zu verbergen, »wer ist jetzt schon wieder Jewgeni?«
»Mein Bruder«, sagte Elena, und wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. »Jewgeni Kasjanenko. Er ist der wirkliche Grund, warum ich nach Deutschland gekommen bin. Jewgeni arbeitet als Zweiter Offizier auf einem Öltanker. Einem sehr großen Tanker. Ich bin krank vor Sorge, dass sein Schiff das Ziel der Attentäter sein könnte. Als Chasimikow nicht gekommen ist, habe ich Jew sofort angerufen. Sein Schiff, die Ulan, lag zu dem Zeitpunkt in Primorsk, einem der neuen Ölverladehäfen. Ich habe ihm von Chasimikow und den Attentatsplänen erzählt.«
»Und, was hat er gesagt?«, fragte Anna.
»Er hat mich ausgelacht!«
Sieben
8. September
A
ls ich am nächsten Morgen erwachte, hörte ich aus der Küche leise Frauenstimmen, erst Gemurmel, kurz darauf ein verhaltenes Lachen. Anna hatte am Abend zu viel Bier getrunken, um noch nach Hause fahren zu können, und sich mit Elena mein Bett geteilt. Für mich war die Couch geblieben. Ich öffnete meine Augen einen Spaltbreit und ließ den Blick durch das von einer strahlenden Sommersonne ausgeleuchtete Wohnzimmer wandern. Ich fühlte mich auf eine merkwürdige Weise behaglich. Die Morgensonne, das leise Stimmengewirr und der Geruch von Kaffee und Toast erzeugten ein Gefühl von Geborgenheit, das mich irritierte. Beinahe wie in einer Familie, dachte ich. Glaub mir , sagte Helens Stimme in meinem Kopf, das wäre nichts für dich!
Ich zuckte zusammen und schloss die Augen wieder. Es war geradezu beängstigend, wie gut sie mich kannte. Seit mehreren Monaten hatte ich ihre Stimme nicht mehr gehört. Sie klang wie immer, cool und melancholisch, und doch bildete ich mir ein, einen brüchigen Unterton herauszuhören, der vorher nicht da gewesen war. In die Gerüche aus der Küche mischte sich jetzt das Aroma von Spiegeleiern und Speck. Außer Anna kannte ich
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