Moerderische Fracht
ja, glaubwürdiger ist, wenn ich alles selbst erzähle. Die ganze Sache ist schon verrückt genug.«
»Gut«, verkündete Anna, »das klingt nach einer längeren Geschichte. Da brauche ich noch was zu essen.«
Sie ging in die Küche und kam nach einer Minute mit Kümmelbrot, gesalzener Butter, Schinken, Käse und noch mehr Bier auf einem Tablett zurück. Nach einer einladenden Geste in unsere Richtung belegte sie sich eine Brotscheibe daumendick mit Bavaria Blue, öffnete eine neue Flasche Bier und lächelte Elena erwartungsvoll an.
»Ich war dann so weit.«
»Es ist jetzt genau zehn Tage her«, begann Elena, »dass ich Ediew Chasimikow getroffen habe. Ich wollte abends nach der Arbeit noch nach Sergej schauen. Es ging ihm nicht besonders gut. Das Laufen ist schlechter geworden, und im Frühjahr hatte er eine Lungenentzündung. Sein alter Jazzfreund Ole Petersen ist dreimal bei ihm gewesen und hat ihm die CDs von Keith Jarrett mitgebracht, die ihr ihm versprochen hattet. Er hat sich unglaublich gefreut. Dass ihr das Versprechen gegenüber dem Alten gehalten habt, hat mir letztendlich Mut gemacht, hierher zu kommen.«
»Woher hattest du meine Adresse?«, fragte ich.
»Ole Petersen hat sie mir besorgt. Von deinem Freund in Hamburg.«
»Mischka«, warf Anna ein.
Ich nickte und forderte Elena mit einer Handbewegung auf, weiterzusprechen.
»Als ich also an diesem Abend vor Sergejs Haus gehalten habe, saß Chasimikow auf der Bordsteinkante und wartete. Er sprach russisch mit einem kaukasischen Akzent, war etwa vierzig Jahre alt, mager und schlecht gekleidet. Ich mochte ihn nicht. Er hatte im Hafen nach meinem Schwiegervater gefragt, und irgendjemand dort hatte ihm die Adresse in Ostgals gegeben. Sergej hatte ihm nicht aufgemacht, weil ich es ihm verboten habe, deshalb hatte er den ganzen Nachmittag vor dem Haus gewartet. Chasimikow war sehr aufgeregt, er wollte sofort mit Sergej sprechen. Als er dann gesehen hat, in welchem Zustand der ist, ist er völlig zusammengebrochen.«
»Was meinst du mit zusammengebrochen?«, fragte Anna überrascht.
»Er hat da gesessen, das Gesicht in den Händen, und hat geweint und gezittert.«
»Kannte Sergej ihn denn?«
»Nicht persönlich, aber er konnte mit dem Namen etwas anfangen. Nachdem Chasimikow sich so weit erholt hatte, dass er wieder deutlich sprechen konnte, hat er mir erzählt, dass er der Sohn eines alten Freundes meines Schwiegervaters ist. Sergej und der alte Asian Chasimikow waren Kameraden in der sowjetischen Kriegsmarine, und tatsächlich erinnerte ich mich, dass auch Sergej in seinen zahllosen Anekdoten davon erzählt hatte.«
»Gut. Woher kam jetzt dieser Chasimikow?«
»Aus Tschetschenien, genauer gesagt aus Grosny. Es war sehr schwer, sich mit ihm zu unterhalten, weil er so verzweifelt und enttäuscht war. Er war gekommen, um meinen Schwiegervater in einer wichtigen Sache um Hilfe zu bitten.
Als Sohn eines alten Freundes. Doch nachdem er den langen und gefährlichen Weg von Grosny nach Ventspils hinter sich gebracht hatte, musste er feststellen, dass Sergej Bakarov ein hilfloser, gebrechlicher alter Mann war, der zudem nicht mehr richtig sprechen konnte.«
»Hast du herausbekommen, was er eigentlich wollte?«, fragte ich.
»Ja. Nach einiger Zeit hat er sich beruhigt. Sergej hat seine Hand gehalten, ich habe Tee gekocht, und eine halbe Stunde später ging es dann wieder. Er war nach Ventspils gekommen, um Sergej ein Geheimnis mitzuteilen. Ein sehr großes, gefährliches und kostbares Geheimnis. Er hatte sich vorgestellt, dass Sergej ihm sagen sollte, wem er dieses Geheimnis für Geld verraten konnte.«
»Das war alles?«, fragte Anna, »er wollte eine Information verkaufen und um Rat bitten? Da hätte er doch auch telefonieren oder mailen können.«
Elena schüttelte den Kopf.
»Wer in Russland ein Geheimnis weitergeben will, benutzt nicht das Telefon oder das Internet, vor allem nicht, wenn er Tschetschene ist. Die Tschetschenen stehen da unter Generalverdacht. In den Augen der Russen handelt es sich um ein ganzes Volk von Schmugglern, Schwarzhändlern, Zuhältern und Terroristen.«
»Jetzt hätte ich aber doch gerne gewusst, um was für ein kostbares Geheimnis es sich handelt«, sagte Anna.
»Natürlich.« Elena sah müde und etwas gekränkt aus. »Also, ich weiß, wie verrückt das klingt. Er hat behauptet, er habe ein Gespräch von Landsleuten belauscht, in dem ein Anschlag in Westeuropa geplant wurde. Tschetschenische Terroristen wollen einen
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