Moerderische Fracht
hatte, und als ich das erste Mal dort gewesen war, hatte ich auch verstanden, weshalb. Das knapp einhundert Hektar große Areal im Osten Hamburgs war ein sogenannter Rasenfriedhof und vermittelte mit seinen geschützten Vogelarten und dem naturnah gestalteten Bachtal den Eindruck eines sehr stillen Naherholungsgebietes. Charakteristisch waren seine kreisförmigen Grabfelder und die Ausweisung einer geschlossenen Fläche für die Beisetzung von Muslimen, deren Gräber nach Mekka ausgerichtet waren.
Ich war seit dem Begräbnis nicht mehr auf dem Friedhof gewesen, und als ich nach einer guten halben Stunde Autofahrt an Helens Grab stand, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen. Ich schloss die Augen, und alles war wieder da. Der unaufhörliche Regen, der mir in den Hemdkragen lief, das Dröhnen der Erdklumpen auf dem Sargdeckel, Annas Schluchzen und die versteinerten Gesichter der Trauergäste. Mit unfassbarer Intensität und Detailgenauigkeit wurde die Erinnerung an die Beerdigung lebendig und zerrte am Boden unter meinen Füßen. Ich wollte die Augen schnell aufreißen, doch es ging nur im Zeitlupentempo. Mein Blick fiel auf den von der warmen Spätsommersonne angestrahlten Grabstein.
Helen Jonas 15. 7. 1970 – 4. 4. 2007
Darunter die Grabinschrift, die Helen sich gewünscht hatte:
»Auch wenn ein Freund weggeht,
muss man die Türe schließen«,
sagte Me-ti, »sonst wird es zu kalt.«
»Es kann nicht kälter werden«, sagte Kin-jeh.
»Doch, es kann«, sagte Me-ti.
(B. Brecht)
Sie hatte gewusst, dass ich es nicht schaffen würde, die Tür zu schließen. Ich Idiot dagegen hatte nicht einmal eine Ahnung davon gehabt, dass sie schon zu Lebzeiten Vorkehrungen für den Fall ihres Todes getroffen hatte, und vor zwei Jahren hatte ich auch das Zitat aus dem Me-ti, Buch der Wendungen nicht wirklich verstanden.
Helen hatte sich Sorgen um mich gemacht.
Wundert dich das?
Wie immer flutete die vertraute Stimme im Kopf meinen Nacken mit Wärme, doch sie hatte wieder diesen müden und brüchigen Unterton, der mir schon in München aufgefallen war. Nein, dachte ich, wie sehr du mich geliebt hast, habe ich inzwischen begriffen. Du hättest es allerdings ruhig ein bisschen früher mal erwähnen können.
Komm, setz dich, sagte Helen.
Ihre Stimme schien mir jetzt heiterer, weniger melancholisch. Ich drehte mich um und sah in etwa zwanzig Metern Entfernung eine Bank, von der aus man einen schönen Blick auf die Grabanlage hatte. Steifbeinig ging ich darauf zu und setzte mich. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, und die Septembersonne blendete mich. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Stille. Selbst die zahlreichen Singvögel schienen Sendepause zu haben, und ganz langsam ließ die Anspannung etwas nach.
Du hättest die Malerin nicht mit hineinziehen dürfen, sagte Helen.
Nein, hätte ich nicht, sagte ich wütend, aber ohne sie wäre es nicht gegangen!
War es wirklich so wichtig, zu versuchen, diesen Mann zu töten? Mir hat es nichts genutzt.
Es hat ja auch nicht funktioniert. Und ich habe es nicht für dich getan, sagte ich, von plötzlicher Kälte und Klarsicht erfüllt, sondern für mich!
Ich weiß, sagte Helen.
Meine Gedanken wanderten zurück zu dem entscheidenden Moment, als Anna und ich in unserem Brüsseler Hotel begriffen, dass Morisaitte seine Freundin Jaqueline van t’Hoff fortwährend misshandelte und dass das unsere vielleicht einzige Chance war, über sie an ihn heranzukommen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich gewusst, was ich tun würde. Das ist nicht dein Ernst, hatte Helens Stimme in meinem Kopf geflüstert, doch genau das war es gewesen. Todernst, um genau zu sein.
Am nächsten Tag hatte ich sie aufgesucht. Mit einhunderttausend Euro in einem Aktenkoffer und einer kleinen Tablette in einem Briefumschlag. Sie hatte eine Wohnung mit Atelier und zwei Verkaufsräumen direkt an der Place du Jeu de Balle mitten im Marollenviertel. Obwohl steigende Mieten und Immobilienspekulationen viele der alteingesessenen Marolliens aus dem ehemaligen Bettler- und Prostituiertenviertel vertrieben haben, ist es immer noch von zahlreichen Künstlern, Studenten und multikulturellen Trödlern bevölkert, die die Dinge locker nehmen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Trotz des dichten Gedränges vor dem Haus war ich sicher, dass niemand auf mich achtete, als ich den Laden von Jaqueline van t’Hoff betrat. Er bestand aus zwei gut beleuchteten
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